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Dr. Mania und die Strafe des Voyeurs

■ Geschichts- und Körperklitterung in Panoptikum und Museum . Zwei Ausstellungsbesuche und ein Roman

Der Arm

der Wasserleiche

Goethe spukt. Vor den syphilitisch befallenen Gliedern im anatomischen Kabinett des Berliner Panoptikums und angesichts der Schädelsplitter des Urmenschen im Museum für Deutsche Geschichte verfolgen mich Gedanken an seinen Entwurf einer plastischen Anatomie. In seinem Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (1807-1821 geschrieben) schiebt Goethe, auch bekannt als Entdecker des menschlichen Zwischenkieferknochens, ein Kapitel über die Kunst des Formens anatomischer Modelle ein. Wilhelm Meister, der, dem Theaterspiel endgültig entsagend, in den „Wanderjahren“ Medizin studiert, um zum nützlichen Mitglied einer neuen, nach Amerika aufbrechenden Gesellschaft zu werden, schrickt zurück, als er einmal den schönen Arm einer Frau, die sich aus Liebeskummer ins Wasser gestürzt hat, sezieren soll. Daraufhin lädt ihn ein medizinisch interessierter Bildhauer in seine Werkstatt ein.

Wilhelm trat hinein und hatte freilich zu erstaunen, als er, statt Nachbildung lebender Gestalten zu sehen, hier die Wände durchaus mit anatomischen Zergliederungen ausgestattet fand; sie mochten in Wachs oder sonstiger Masse verfertigt sein, genug sie hatten durchaus das frische farbige Ansehen erst fertig gewordener Präparate. „Hier, mein Freund“, sagte der Künstler, „hier sehen Sie schätzenswerte Surrogate für jene Bemühungen, die wir, mit dem Widerwillen der Welt, zu unzeitigen Augenblicken mit Ekel oft und großer Sorgfalt dem Verderben oder einem widerwärtigen Aufbewahren vorbereiten. (...) Sie sollen in kurzem erfahren, daß Aufbauen mehr belehrt als Einreißen, Verbinden mehr als Trennen, Totes beleben mehr als das Getötete noch weiter töten; kurz also, wollen Sie mein Schüler sein?“ (...) Der neue Schüler nahm seine Gedanken zusammen, und als er die Knochenteile näher zu betrachten anfing, sah er, daß diese künstlich von Holz geschnitzt seien. „Ich habe“, versetzte der Lehrer, „einen geschickten Mann, dessen Kunst nach Brote ging, indem die Heiligen und Märtyrer, die er zu schnitzen gewohnt war, keinen Abgang mehr fanden, ihn hab ich darauf geleitet, sich der Skelettbildung zu bemächtigen und solche im großen wie im kleinen naturgemäß zu befördern.“

Wilhelm Meister geht bei diesem Bildhauer in die Lehre und kann bald aus wenigen Elementen Skelett und Körperbau rekonstruieren. Diese Fertigkeit wird später zur Technik der Archäologen und Anthropologen, mit der aus Knochensplittern und Zähnen das Modell unserer Ahnen vorstellbar gestaltet wird. Wilhelm entdeckt in diesem Handwerk eine lang gesuchte Synthese von Kunst und Technik; zusammenfügen und rekonstruieren gilt ihm nicht nur als ästhetische und medizinische Praxis, sondern auch als ein Erkenntnismodell, das an die Stelle des zerstörenden Zergliederns des Objekts rückt. Sein Lehrer aber, der den Naturalismus von Schaubudenfiguren zwar als Kunstform ablehnt, vergleicht seine Tätigkeit dennoch mit der göttlichen Erschaffung des Menschen.

Der Meister hatte einen schönen Sturz eines antiken Jünglings in eine bildsame Masse abgegossen und suchte nun mit Einsicht die ideelle Gestalt von der Epiderm zu entblößen und das schöne Lebendige in ein reales Muskelpräparat zu verwandeln. „Auch hier finden sich Mittel und Zweck so nahe beisammen, und ich will gern gestehen, daß ich über den Mitteln den Zweck vernachlässigt habe, doch nicht ganz mit eigener Schuld; der Mensch ohne Hülle ist eigentlich der Mensch, der Bildhauer steht unmittelbar an der Seite der Elohim, als sie den unförmlichen, widerwärtigen Ton zu dem herrlichsten Gebilde umzuschaffen wußten; solche göttlichen Gedanken muß er hegen, dem Reinen ist alles rein, warum nicht die unmittelbare Absicht Gottes in der Natur? Aber vom Jahrhundert kann man dies nicht verlangen, ohne Feigenblätter und Tierfelle kommt es nicht aus, und das ist noch viel zu wenig. Kaum hatte ich etwas gelernt, so verlangten sie von mir würdige Männer in Schlafröcken und weiten Ärmeln und zahllosen Falten; da wendete ich mich rückwärts, und da ich das, was ich verstand, nicht einmal zum Ausdruck des Schönen anwenden durfte, so wählte ich nützlich zu sein, und auch dies von Bedeutung.„

Das kriminelle

Element

Das positive Bild von der ins nützliche Handwerk mutierten Kunst scheint, in seiner sozialen Ethik und in seinem Versprechen der Erlösung des Künstlers aus dem Zwiespalt zwischen subjektiver Verwirklichung und den Ansprüchen der Gesellschaft, weit entfernt vom heutigen Spektakel eines Wachsfigurenkabinetts zu sein. Doch das Ideal erhält im Roman noch einen merkwürdigen Kick ins Makabre und Abseitige, der das Mißtrauen des Autors in seine eigene Konstruktion andeutet und die plastische Kunst ihrer späteren Wirklichkeit annähert. Der Bildhauer, der ebenfalls mit Wilhelm nach Amerika zieht, schlägt vor:

„Drüben über dem Meere, wo gewisse menschenwürdige Gesinnungen sich immerfort steigern, muß man endlich bei Abschaffung der Todesstrafe weitläufige Kastelle, ummauerte Bezirke bauen, um den ruhigen Bürger gegen Verbrechen zu schützen und das Verbrechen nicht straflos walten und wirken zu lassen. Dort, mein Freund, in diesen traurigen Bezirken, lassen Sie uns dem Äskulap eine Kapelle vorbehalten, dort, so abgesondert wie die Strafe selbst, werde unser Wissen immerfort an solchen Gegenständen erfrischt, deren Zerstückelung unser menschliches Gefühl nicht verletze, bei deren Anblick uns nicht, wie es Ihnen bei jenem schönen unschuldigen Arm erging, das Messer in der Hand stocke und alle Wißbegierde vor dem Gefühl der Menschlichkeit ausgelöscht werde.„

Die Kunst der lebensechten Nachbildung hat allen Goetheschen Utopien zum Trotz dort, wo sie nicht zum wissenschaftlichen Instrument wurde, nicht nur oft eine Reduzierung auf „würdige Männer im Schlafrock“ erfahren den heutigen Moden entsprechend etwa Sepp Herberger im schlappen blauen Trainingsanzug -, sondern sie hat zudem eine Vorliebe für das kriminelle Element und den zerstörten menschlichen Körper entwickelt. So finden sich im ersten Raum des Berliner Panoptikums, ist man an den Stars aus Film und Funk wie einem merkwürdig kurz geratenen Jimi Hendrix oder einer Marlene Dietrich vorbei, von Bordell- und Zahnarztszenen eingerahmt, der Massenmörder Haarmann und ein Klub von Raubmördern, und das Interesse des Publikums ist allein der Berufsbezeichnung dieser biedermeierlichen Figuren geschuldet.

Staatsmänner, Könige und Künstler, in Vitrinen und in Nischen aufgereiht, halten zwar noch einen letzten Rest des bildungsbürgerlichen Anspruchs aufrecht, Geschichte zu illustrieren. Doch auch schon bei der Prominenz geht von den bleichen Köpfen mit geschlossenen Augen, die als Totenmasken auf roten Samtkissen in einer fast sakral anmutenden Rotunde drapiert sind, der größte Schauder aus. Ohne diese Würde hingegen, eher wie Jagdtrophäen, sind die Köpfe eines ethnologischen Kabinetts, von „Hottentotten“ bis zu „Indianiden“, in einem Schrank dekoriert.

Einen Höhepunkt bilden die requisitenreich inszenierten Folterszenen des Mittelalters, mit abgehackten Köpfen, Verließ und Streckbett. Merkwürdigerweise wird der einzige Mann, der in dieser abwechslungsreichen Szenerie nicht mit Auspeitschen oder Sterben beschäftigt ist, aber einer Klassifizierung und Einordnung ins Bild bedarf, als „Voyeur“ bezeichnet. Den allgemeinen Voyeurismus bestraft in dieser Peepshow des Grauens das „Medizinische Kabinett von 1890“, das vor allem mit von der Syphilis befallenen Geschlechtsorganen, mit Geburtsakten und siamesischen Zwillingen die lüsternen, heimlichen Blicke auf den Körper anreizt und sofort mit Ekel sanktioniert. An den Wänden spiegeln dabei vergrößerte Reproduktionen alter Stiche noch einmal vor, man befände sich in einem der Wissenschaft dienlichen Labor, allein der antiseptische Blick will nicht gelingen.

Verzerrung

und Zerstückelung

An diesem Ort, der seine Attraktivität aus der Deformation und der Abweichung speist, wird ein junger expressiver Künstler vorgestellt, der nun umgekehrt die Verzerrung des Normalen und die Zerstückelung des Ganzen als bewußte Methode der Enthüllung benutzt. In seinen Collagen verfremdet Joseas Köpfe von Werbeplakaten und aus Illustrierten zu konsumgeilen und verschlingenden Monstern, die nur aus gefräßigen Augen, saugenden Nüstern und bleckenden Gebissen bestehen. Mit ihnen reagiert er auf die aggressive Großstadt, die suggestiv die Sucht und die Gier anstachelt. Auf einem Schauplatz im Inneren des Körpers tanzen dagegen seine aus Holzstücken, Rinden und Geweihen montierten und in der Bemalung wild grimassierenden „Bauchweh-“, „Fußschweiß-“ und „Zahnwehteufel“ wie animalische Rachegeister, die die Mär vom Glück der körperlichen Befriedigung Hohn strafen und den Leib in einen Kampfplatz verwandeln. Joseas‘ drastische Bildsprache paßt eigentlich gut ins Panoptikum; allein der oft unfreiwillig ins Groteske kippende Naturalismus der Wachsfiguren, die, von verschiedenen Meistern und zu verschiedenen Zeiten geformt, zum Teil seltsam proportioniert sind, stumpft die Sinne für seine gezielten Verwüstungen und Verschiebungen ab.

Kurz vor dem Ausgang des Panoptikums begegnet mir zwischen lauter asiatischen Figuren Theodor Fontane; und da lagert auch eine Gruppe Germanen. Von diesen wird mir die Phantasie des Lesers hoffentlich folgen können zu der Ausstellung Auf den Spuren des Urmenschen im Museum für Deutsche Geschichte, die in ihre spartanische und sandige Inszenierung einer Ausgrabungsstätte nur drei kleine, saftig grüne Bilderbuchillustrationen von jagenden und werkelnden Urmenschen eingestreut hat. Der Rest sind Knochen, Versteinerungen und Abgüsse der Fundstellen.

Lesen aus

dem Müll

Doch gerade in ihrer Sprödigkeit rühren die alten Knochen an, und es gelingt der Ausstellung, den Weg von der Entdeckung der Knochensplitter über ihre Klassifizierung und die Interpretation des Fundortes bis zur Rekonstruktion einer Gemeinschaft der Urmenschen nachzuvollziehen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der Forscher, die kleine Puzzlesteinchen in ein Gebäude von Thesen einpassen. Nahe einem kleinen See in Thüringen lebten wahrscheinlich vor 350.000 Jahren späte Vertreter des Homo erectus, Vorläufer des heutigen Homo sapiens, dessen Existenz in Afrika und China schon vor 1,6 Millionen Jahren nachgewiesen wurde. Die Spuren von Arbeitsplätzen, Wohnhütten, Feuerstellen und vor allem der Abfallhalde aus den Knochen der verspeisten Tiere ermöglichen ein Bild ihres Lebens und ihrer Umgebung. Ihre Erhaltung verdanken die Artefakte einer kalkhaltigen Quelle, die eine schnelle Versteinerung begünstigt. Zu den schönsten Exponaten gehören die Brocken Travertin, in denen sich Pflanzenblätter mit der filigranen Zeichnung aller Rippen und Adern eingeprägt haben, die einen Rückschluß auf Vegetation und das warme Klima zulassen.

Seit der Geologe Dr. Dietrich Mania, für den Frau Goldmann, die eine Gruppe Journalisten durch die Ausstellung führt, der Bewunderung voll ist, 1969 die Fundschicht in der Bilzingslebener Steinrinne entdeckte, wird dort auf einem Areal von 1.000 Quadratmeter gegraben. Je weiter zurück in die Jahrtausende eine Ausgrabung vorstößt, desto seltener werden die Zeugnisse, die es zu interpretieren gilt. Mania ließ deshalb selbst den Abhub von ausgegrabenen Artefakten noch einmal sieben, und dabei fand seine Mitarbeiterin Frau Goldmann einen Kinderzahn. Daneben sind es sieben Zähne von Erwachsenen und elf Schädelreste von zwei Individuen, die sich fanden - mehr nicht. Diese Splitter aber ließen sich dem Modell des in Afrika und China entdeckten Homo erectus einpassen. Als Ausstellungsstück machen sie natürlich nicht so viel Eindruck wie die riesigen Gelenke, Knochen und Kieferstücke von Elefant, Nashorn und Löwe, deren damalige Existenz in Thüringen mich, ehrlich gestanden, mehr beeindruckt als die der Urmenschen. Hinter die Schädelstückchen haben die Ausstellungsmacher in einer poetischen Geste große Fotos des Universums montiert, um den unvorstellbaren Zeitraum, der uns von diesen Ahnen trennt, mit der Unendlichkeit des Raums in Beziehung zu setzen.

Die emphatische Stimme von Frau Goldmann, die keinen angemessenen Gradmesser mehr für die Größe der wissenschaftlichen Sensation ihrer Funde finden kann, wird atemlos, als sie auf einen Knochen mit eingravierten Strichen und einen gesonderten Platz mit festgetretenen Steinen und Knochen zu sprechen kommt. Die Zeichnung der regelmäßigen Linien auf dem Knochen gilt als ein frühes Zeugnis für das Abstraktions- und Darstellungsvermögen der Urmenschen, auch wenn ihre Funktion nicht bestimmt werden kann. Der Platz aber, der frei war von Spuren des Wohnens, Arbeitens und vor allem des Abfalls, wird gelesen als eine über die Notwendigkeiten der Arbeit hinausweisende Manifestation von Kultur, als ein wahrscheinlich ritueller Ort, der der Verarbeitung von Erfahrung, ersten Ansätzen des Glaubens und der Konstituierung von Gemeinschaft und sozialen Regeln diente. Diese Fülle möglicher Bedeutungen, unbeweisbar und unwiderlegbar, die der einfachen festgetretenen Fläche zugeordnet wird, versuchen manche archaiksüchtigen Künstler von heute vergebens einzuholen. Was einst Goethes Utopie war, die Einlösung ästhetischer Kriterien in der wissenschaftlichen Darstellung, wird hier, unabsichtlich, erfüllt.

In ihrer Schlußbetrachtung verwies Frau Goldmann auf die oft unbewußten Spuren archaischen Verhaltens in den Menschen heute, um dann vor diesen Konstanten menschlicher Geschichte die letzten vierzig Jahre DDR zu einer kurzen Episode zusammenschnurren zu lassen. Daß die Ansicht von Schädelknochen von kleinlichen Emotionen befreit und zu distanziertem Sinnieren inspiriert, erlebte auch Goethe, der den Totenschädel seines Rivalen Schiller andichtete: „Wie mich geheimnisvoll die Form entzückte! / Die gottgedachte Spur, die sich erhalten! / Ein Blick, der mich an jenes Meer entrückte, / Das flutend strömt gesteigerte Gestalten. / Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,/ Wie bin ich wert, dich in der Hand zu halten?“ Was macht es schon aus, daß Goethe wahrscheinlich den falschen Schädel in der Hand hielt.

Katrin Bettina Müller

Berliner Panoptikum am Ku'damm-Eck, Berlin 30. Geöffnet täglich von 10 bis 23 Uhr, Eintritt 5 DM. Darin Joseas‘ Ausstellung Manni und seine Freundebis zum 29. August.

Bilzingsleben . Auf den Spuren des Urmenschen. Sonderausstellung des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle und des Museums für Deutsche Geschichte Berlin, Unter den Linden 2, Berlin 1080. Bis zum 2. September Mo. bis Do. von 9 bis 19 Uhr, Sa. und So. von 10 bis 17 Uhr. Führung am 4. August um 10 Uhr.

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