: Neustadt wird mobil gemacht: „Senat abschießen“
■ Einzelhändler, Bürgerverein und lokales Anzeigenblatt blasen zum Großangriff auf's ÖPNV-Konzept
„Im Senat könnte ich alle abschießen“. Oder: „Schildbürgerstreich.“ Oder: „Diejenigen, die Hauptstraßen zusammenschraffieren lassen, müssen strafrechtlich wegen Verschleuderung von Steuergeldern belangt werden.“ Oder: „Das vorgesehene Verkehrskonzept ist totaler Schwachsinn.“ Oder: „Unsere Umweltsenatorin wird in ihrem Wohnbereich nicht gestört, andere interessieren nicht.“
In der Bremer Neustadt kocht die Volksseele. Gleich dutzendweise lieferte jetzt der Briefträger Protest -Postkarten an die Ein-Mann-Redaktion des Stadtteil -Anzeigenblättchens „Neustädter Echo“. Unter dem Motto „60 Pfennig für eine lebenswerte Neustadt“ hatte das Blättchen, in dem ansonsten der lokalpatriotische Einzelhandel sein Warensortiment in der Nachbarschaft feilbietet, zum postalischen Großangriff auf das Senatskonzept für einen verbesserten Personennahverkehr geblasen. Mit Erfolg: Nur eine einzige von über 100 Antwortkarten mit dem vorgedruckten Suggestiv-Satz „Ich bin dagegen, daß die Neustadt noch mehr als bisher umweltmäßig belastet wird“ ließ auch nur ein paar gute Haare am Verkehrskonzept, mit dem der Bremer Senat Bus und Bahnen in der Neustadt schneller machen und Autofahrer mit sanfter Gewalt zum
Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel bewegen will. Der Rest der Kartenschreiber war sich einig: Das ÖPNV-Konzept „läßt die Neustadt im totalen Verkehrschaos versinken“.
Das „totale Verkehrschaos“ anzurichten - in der Neustadt scheint das eine der leichtesten Übungen von Bremens oberstem Verkehrsplaner, Klaus Hinte, zu sein: Zwei Dinge hat Hinte „ab September, Oktober“ gemäß senats- und bürgerschaftsbeschlossenem ÖPNV-Konzept vor: Wie schon auf der Langemarckstraße kriegt die Straßenbahn auch auf dem Buntentorsteinweg eine eigene Fahrbahn, Autofahrer müssen dafür in beiden Fahrtrichtungen mit einer Spur auskommen, eine durchgezogene weiße Linie verbietet in der Regel Linksabbiegen in die Seitenstraßen. Auch in der Friedrich -Ebert-Straße sollen sich Bus und Bahn nach Senats-und Hinte -Willen auf Kosten der Autos breitmachen.
Wenn man dem „Neustädter Echo“ und dem „Neustädter Bürgerverein“, der die Lokalblättchen-Kampagne inszeniert hat, glauben darf, zittern seither ältere Neustädter um ihre Leben, Eltern um die Gesundheit ihrer Sprößlinge, Häuslebesitzer um die Wertbeständigkeit ihrer Immobilien und Geschäftsleute um ihre Existenz. Sie wittern hinter dem
ÖPNV-Konzept vor allem den festen Senatsvorsatz, die Neustadt unter einer Dunstglocke von Abgasen verschwinden zu lassen, Menschen gezielt am Besuch ihrer Freunde auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu hindern und dem ortsansässigen Einzelhandel die letzten Kunden durch systematisch entzogene Parkplätze abspenstig zu machen.
Adolf Oetken, inzwischen pen
sionierter Geschäftsführer der Neustädter Sparkassen-Filiale und langjähriger Vorsitzender des 500-köpfigen Bürgervereins, hat eine ganz einfache Begründung für seine Befürchtungen: „Ein Autofahrer läßt sein Auto nicht stehen“. Oetkens Schlußfolgerung: Gleisschraffierungen hin, durchgezogene Linien her - auch in Zukunft werden sich genausoviele Autos durch die Neu
stadt quälen wie bisher und entweder stinkend im Stau stehen oder sich Schleichwege durch die Wohnstraßen suchen.
Für seine Kampagne zur Rettung der Autofahrer-Freiheit in der Neustadt ließ Oetken jetzt seine Beziehungen zum Neustädter-Echo-Herausgeber spielen. Der konnte sich auf die stillschweigende Unterstützung seiner Hauptanzeigenkundschaft,
des „Rings Neustädter Fachgeschäfte“ verlassen. Ring -Mitglied und Lederwarenhändler Breutigam: „Wir Geschäftsleute unterstützen den Bürgerverein natürlich, haben uns aber bewußt bedeckt gehalten. Sonst hätte es gleich wieder geheißen: 'Da fürchten bloß ein paar Geschäftsleute um ihren Umsatz‘.“
Verkehrsplaner Hinte, im Nebenamt inzwischen Hauptprügelknabe für das Senats-ÖPNV-Konzept, findet die ganze Kampagne „ziemlich albern“. Hinte: „Über begründete und konkret vorgetragene Änderungswünsche lassen wir mit uns reden. Bloß das Grundkonzept kann nicht mehr zur Diskussion stehen.“ Schon in mehreren Gesprächsrunden mit den Anliegern habe er um Verständnis für das Prinzip „Vorrang für den ÖPNV“ geworben. Darüberhinaus seien 45 Fachgeschäfte schriftlich gebeten worden, ihre Einwände zu formulieren. Reagiert haben bislang vier. Hinte: „Manchmal kriegt man den Eindruck, die wollen gar nicht zur Verbesserung des Konzepts beitragen, sondern es sabotieren.“
Allerdings eins räumt Hinte ein: „Jetzt rächt sich, daß Bremen in Sachen ÖPNV zehn Jahre durch Nichtstun geglänzt hat. In kaum einer vergleichbaren Stadt sind die Autofahrer so verwöhnt wie in Bremen.“
K.S.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen