Ein Crashkurs in drei Tagen

■ John Cage in Ost-Berlin eingeführt

John Cage in Ost-Berlin, das ist mehr als die bloße Teilnahme eines Komponisten bei der Aufführung seiner Werke. Es ist ein Statement des Ostberliner Musiklebens, mit dem Cage nach der Reformation der Verbände von Komponisten und Akademikern als Pionier der neueren Musikgeschichte gefeiert wird. Durch ein Joint-venture zwischen westdeutschen Musikinstitutionen, der Akademie der Künste der DDR und der Gesellschaft für Neue Musik der DDR wurde der Versuch unternommen mit drei Veranstaltungen (vom 30. Juli bis 1. August) wesentliche Aspekte der Arbeiten von John Cage zu repräsentieren. Eine Art Kurzporträt.

Es begann am Montag in der Bartholomäuskirche mit einem Orgelkonzert. Der Komponist und Organist Jakob Ullmann spielte neben den Fragmenten von Arnold Schoenberg - der als Antipode zu Cage gelten kann - die Messe des pauvres von Erik Satie, den Cage als seinen Meister ansieht. Die Schlichtheit der Komposition, die stetige Variation des gleichen, der Verzicht auf musikalische Entwicklung sind wichtige Anregungen, die Spuren bei Cage hinterlassen haben.

Cages Orgelstück Some of „The Harmony of Maine„ ist nach einer einfachen Methode gearbeitet. Aus einem Gesangsbuch (dem The Harmony of Maine eben) wählte er 13 dreistimmige Kirchenlieder aus, die ebenso schlicht sind wie die Gemüter der inbrünstig Gläubigen. Mittels des Münzwurfs nach der „I-Ching„-Methode - Cages Standardwerkzeug für die Arbeit mit dem Zufall - wird für jeden Ton der Vorlage entschieden, ob er bleiben darf oder wegfällt: das Tipp-Ex -Verfahren. Zudem bestimmt der Zufall, wie lange der Ton gehalten und in welcher Klangfarbe, also mit welchen Orgelregistern er erklingen wird. Nach dieser Behandlung ist ein bunter Flickentonsatz entstanden, bei dem jeder Ton anders klingt, die Rhythmen aufgelöst sind und die Klänge ständig wechseln. Da schon das Original nicht sehr vielfältig ist und durch die Operationen der harmonisch -melodische Bezug zerfällt, helfen die gewöhnlichen Hörstrategien nicht weiter. Es gibt keinen Verlauf, Anfang und Ende sind ebenso wie der Zusammenhang der Klänge ohne Bedeutung. Das Stück erzwingt eine Einstellung, die nicht auf ein Ende wartet, sondern die musikalischen Ereignisse um ihrer selbst willen würdigt, am besten so, als hätte man noch nie zuvor gehört. Da das Stück bei geringer Abwechslung über eine Stunde lang ist, ergab sich allerdings bisweilen, daß bei manchem die Klangmeditation in freien Schlaf überging.

Am nächsten Tag war der völlige Kontrast zu erleben. Heraus aus der kühlen und düsteren Kirche auf den sonnenüberströmten Kollwitzplatz, hinein in Trubel und Gewimmel.

Es gab Musicircus, ein Happening. Das Rezept war einfach, John Cage rief: „Alle Leute sind eingeladen, die alle zugleich am selben Ort spielen wollen.“ Und siehe, es kamen: Blockflötisten, Blechkapellen, Saitenstreicher, Posaunenrudel, Schlagwerker, Metallwerker, Tonbandarbeiter, Geräuschmacher, Free Music Combos, Maultrommler, Akrobaten, Projektoren und vor allem Publikum. Alle spielten, was sie wollten und solange es ihnen gefiel, und fertig war der Musicircus. Die Manege war überall, Musiker und Zuhörer mischten sich zu immer neuen Grüppchen. Ein buntgemusterter Klangteppich breitete sich über den ganzen Platz aus und zeigte an jeder Stelle ein anderes Ornament. Jedermann suchte seinen eigenen Weg durch das Klangdickicht und erlebte so sein individuelles Stück Musik. Mittendrin schritt John Cage, der Meister, und betrachtete die Früchte, die seine Experimente trugen. Viele der Akteure griffen Ideen seiner Arbeiten auf, vieles war eine Hommage an ihn, mit der er nun in der DDR willkommen geheißen wurde.

Am Mittwoch, in der Akademie der Künste der DDR, wurden Werke vorgestellt, mit denen Cage Musikgeschichte gemacht hat. Die Stücke 34'46.766'‘ for a Pianist (mit präpariertem Klavier), 26'1.1499'‘ for a String Player für eine Cellistin und 27'10.554'‘ for a Percussionist wurden gleichzeitig angespielt. Sie dauern genausolang, wie der Titel besagt, und können solistisch gespielt oder eben übereinandergelegt werden. Bei einer simultanen Aufführung ist nicht vorhersehbar, welche musikalischen Momente sich ergeben. Alle Klänge entstehen erst beim Zusammenspiel, zufällig. Die faszinierende Erfahrung besteht darin, daß die Instrumente mitunter so zusammenklingen, als wären sie im Detail auskomponiert. Es bilden sich manchmal ganze Passagen von ruhigen, ineinandergreifenden Figuren oder rasche, pointiert rhythmische Abschnitte. Solche Zusammenhänge entstehen aber erst im Ohr des Hörers. Faszinierend bei diesen Stücken aus den fünfziger Jahren ist das ungewöhnlich reiche Schlagzeug, das mit Dutzenden verschiedenster Klangfarben aufwartet, zu denen sich noch die perkussionsähnlichen Farben des präparierten Pianos gesellen. Auch Music For Five von 1984 arbeitet mit Prinzipien der offenen Form. Marianne Schroeder (Klavier), Frances-Marie Uitti (Cello), Eberhard Blum (Flöte), Isao Nakamura (Schlagzeug) und Friedrich Schenker (Posaune) spielten als Ensemble wie intuitiv zusammen, erzeugten Momente großer Schönheit, wenn zufällige Koinzidenz die Stimmen verknüpfte.

Cage selber deklamierte mit ausdrucksvoll elegischer Stimme einen Auszug aus den Norton Lectures, ein Text, der aus eigenen Texten und den Lieblingszitaten seiner Lieblingsdichter und -denker zusammengewürfelt ist. Buchstäblich zusammengewürfelt, denn die Mesosticha (eine Variante der Akrosticha) sind ebenfalls eine von Cages Spezialitäten, bei denen verschiedenste Sinnmoleküle durch Zufallsoperationen zu einem neuen, offenen Sinngebilde zusammengefügt werden. Sie behandeln Themen, die Cage seit je beschäftigen: Pilze, Musik, Japan, die Natur, die Menschen, die Technologie, das Leben.

Zum Schluß erklang Two, ein Duett für Flöte und Klavier, das dem Verstummen näher ist als dem Tönen. (Es begann denn auch mit einem zweiminütigen Solo der Klimaanlage.) Danach Applaus. Rauschende Klatschkaskaden, die die Interpreten und den Komponisten einhüllen und mit denen die Berliner Szene den in die eigenen Reihen aufnimmt, der immer noch der beste Sprecher seiner Sache ist: John Cage.

Frank Hilberg