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betr.: Estland

Der demokratische Charakter nationaler Bewegungen mißt sich nicht zuletzt daran, wie sie, Vertreter unterdrückter Völker, die Minderheiten im eigenen Land behandeln. Wenn der Kampf um Selbstbestimmung sich aus einem exklusiven Bewußtsein ethnischer Identität nährt, bleibt kein Platz für die „Fremden“. Die baltischen Unabhängigkeitsbewegungen haben seit ihrer Gründung Ende der 80er Jahre die Forderung nach Selbstbestimmung in den Rahmen einer universellen Idee gestellt: der Idee der Menschenrechte. Sie haben in ihrer Programmatik den Minderheitenrechten viel Raum gewidmet, haben auch oft erklärt, daß die Trennungslinie nicht zwischen Russen und „Balten“ verlaufe, sondern zwischen Demokraten und Totalitären.

Aber zwischen den guten Absichten und der Realität muß sich, wie zum Beispiel in Estland, dann eine Kluft auftun, wenn die Minderheit 600.000 von insgesamt 1,6 Millionen Einwohnern zählt, wenn sie ganz überwiegend erst nach dem 2. Weltkrieg einwanderte und wenn ihre Führungsschichten jahrzehntelang das letzte Wort in der Politik behielten. Zwar unterlag Estland nie in dem Ausmaß russischer Einwanderung und einer mit ihr Hand in Hand gehenden Politik der „Russifizierung“ wie das lettische Nachbarland. Aber gleichwohl hatte die russiche Migration in den Nordosten Estlands, in das Gebiet von Varna und Kothla Jarvi für das Land katastrophale Folgen. Sie war Bestandteil einer Industrialisierungspolitik, die Estland nichts brachte außer wachsenden Einöden und 400.000 Tonnen Schwefel, den die Ölschiefer-Verbrennungsanlagen im Jahr ausstoßen. 80 Prozent der Industriearbeiter, die vor allem in dieser Region konzentriert sind, sind Russen. Sie leben unter sich und kaum einer hat die Notwendigkeit verspürt, das Estnische zu erlernen. Eine soziale und kulturelle Integration der russischen Einwanderer wurde regelrecht dadurch blockiert, daß die Autorität der demokratisch legitimierten estnischen Regierung schon frühzeitig durch Organisationen in Frage gestellt wurde, die von der sowjetischen Zentrale ins Leben gerufen worden waren. Auch hat die sowjetische Regierung sich bis heute geweigert, die bislang unionsgeführten Betriebe der Aufsicht Estlands zu unterstellen, so daß ein ökologisch orientiertes Umbauprogramm noch nicht in Angriff genommen werden konnte.

Zu diesen materiellen Bedingungen der Trennung zwischen Russen und Esten tritt die Erfahrung der sowjetischen Okkupation im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes und dann ein zweites Mal nach dem Sieg über Nazideutschland. Über die Zahl der Verschleppten und Internierten gibt es keine genauen Angaben, erst seit wenigen Jahren sammelt eine Schwesterorganisation der sowjetischen „Memorial“ Zeugnisse des Stalinschen Terrors. Wie bitter muß es für die Bürger Estlands gewesen sein, wenn bis zum 50. Jahrestag ihrer Unterzeichnung die schiere Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt von sowjetischer Seite geleugnet wurde. Von einer gemeinsamen estnisch -russischen „Aufarbeitung“ dieser schrecklichen, traumatisierenden Geschichtsperiode kann bis jetzt keine Rede sein.

Dieser Zustand trifft diejenigen unter den russischsprachigen Bürgern Estlands am härtesten, die sich der fremden, estnischen Kultur geöffnet haben; die sensibel genug waren, unter Verbrechen zu leiden, für die sie keine Verantwortung tragen. Sie hätten die eigentlichen Protagonisten der Verständigung sein können und geraten nun zwischen die Mühlsteine.

Christian Semler

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