Arbeitslosigkeit in der DDR explodiert

■ Mehr Arbeitslose in Ost und West / Sprunghafter Anstieg in der DDR auf 272.000 / Geringer Anstieg in der BRD saisonbedingt / Kurzarbeiterzahlen in der DDR explodieren / Für Frauen sieht es düster aus

Von Martin Kempe

Berlin/Nürnberg (taz) - Die Arbeitslosigkeit ist in beiden Teilen Deutschlands im Juli gestiegen. In der DDR hat sich die Zahl in nur einem Monat fast verdoppelt, auf 272.017 registrierte Arbeitslose. Dies sind 3,1 Prozent aller Erwerbstätigen in der DDR. In der Bundesrepublik war ein leichter Anstieg um 55.700 auf 1.863.700 (6,4 Prozent) zu verzeichnen. Während der Anstieg in der DDR auf den beginnenden Zusammenbruch der Wirtschaft zurückzuführen ist, werden in der Bundesrepublik weitgehend saisonale Gründe verantwortlich gemacht: der Kündigungstermin für Angestellte, der Schulabschluß und das Ende vieler Lehrverhältnisse. DDR-Staatsekretär Günter Krause nutzte gestern die für die DDR genannte Arbeitslosenquote von 3,1 Prozent für regierungsoffizielle Gesundbeterei: Die Zahl bleibe weit unter der für die Bundesrepublik.

Er berücksichtigte dabei nicht den eklatanten Unterschied bei den Kurzarbeiterzahlen. In der DDR leisten 656.277 Beschäftigte Kurzarbeit. Insgesamt gingen im Juli Anzeigen über Kurzarbeit für 846.616 Beschäftigte bei den Arbeitsämtern der DDR ein, die über den Juli hinausgehen. Dies ist eine Quote von rund zehn Prozent aller Beschäftigten. Besonders viele KurzarbeiterInnen gibt es in den Problembranchen Land-, Forst- und Fischwirtschaft, Textilindustrie und Elektrotechnik.

In der Bundesrepublik dagegen boomt die Wirtschaft wie kaum jemals zuvor. Kurzarbeit ist praktisch verschwunden: Sie hat sich im Juli um 8.100 oder 21 Prozent auf 30.200 Beschäftigte vermindert und erreichte damit den tiefsten Stand seit Juli 1973. Der ungebrochene Boom in der BRD äußert sich auch in einem massiven Anstieg der Erwerbstätigenzahlen. 28,4 Millionen Menschen gingen im Juli einer Erwerbstätigkeit nach, 638.000 oder 2,3 Prozent mehr als im Vorjahr. Seit dem Beschäftigungstief im Frühjahr 1983 sind damit über zwei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich besetzt worden. Die donnoch verbleibende hohe Arbeitslosigkeit ist auf Zuwanderungen aus dem Ausland (ÜbersiedlerInnen) und auf vom Arbeitsmarkt neu mobilisierte Teile der vorher nicht statistisch erfaßten „stillen Reserve“ zurückzuführen.

Der Beschäftigungszuwachs in der Bundesrepublik ist regional unterschiedlich verteilt. Überdurchschnittliche Zuwachsraten weisen die Bundesländer Bayern, Baden -Württemberg, Hessen und Berlin auf, während das Saarland, Bremen und Hamburg hinterherhinken. Gewachsen sind vor allem die Dienstleistungsbranchen. Deshalb kam der Zuwachs auch zu rund 60 Prozent den Frauen zugute. Rund ein Viertel der neuen Arbeitsplätze wurden in Teilzeit besetzt.

Für die DDR-Frauen dagegen sieht es düster aus. Noch im Juni lag der Frauenanteil an den Arbeitslosen in der DDR bei rund 49 Prozent. Inzwischen liegt er bei 51,6 Prozent. Wie der Staatssekretär in DDR-Arbeitsministerium, Horst Kienitz, gestern bei der Bekanntgabe der neuen Arbeitsmarktzahlen in Ost-Berlin meinte, wird sich dieser negative Trend auch fortsetzen. Er erwartet eine Verringerung des „hohen Frauenbeschäftigungsgrades“ von zirka 90 Prozent in der DDR. In der Bundesrepublik arbeiten nur rund 57 Prozent aller Frauen im erwerbsfähigen Alter.

Wie hoch die Arbeitslosigkeit in der DDR wirklich ist, konnten die Verantwortlichen der DDR-Arbeitsverwaltung nicht klären. Kienitz wandte sich dagegen, einfach die Summe aus Arbeitslosen- und Kurzarbeiterzahlen für das reale Ausmaß der Beschäftigungslosigkeit in der DDR zugrundezulegen. Zwar gebe es keine gesicherten Erkenntnisse, aber bei rund der Hälfte der KurzarbeiterInnen sieht Kienitz die Möglichkeit, den Arbeitsplatz zu retten.

Die Arbeitslosen- und Kurzarbeiterzahlen auf der einen, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen der Arbeitsverwaltung klaffen weit auseinander. Rund 80.000 ABM-Stellen gibt es derzeit in der DDR. Die Einrichtungen und Träger für die Qualifizierungs und Weiterbildung der arbeitslosen und kurzarbeitenden DDR -Beschäftigten werden derzeit zwar überall aufgebaut, aber können nur einen Bruchteil der Betroffenen aufnehmen.

Große Probleme gibt es auch bei den Ausbildungsstellen. Rund 150.000 junge DDR-SchulabgängerInnen haben sich um einen Ausbildungsplatz beworben und bis auf 9.000 konnten alle vermittelt werden. Gleichzeitig aber haben sich nach der Währungsunion viele Betriebe als erstes ihrer Lehrverpflichtung entledigt und rund 10.500 Lehrverträge wieder gelöst. Betroffen sind hauptsächlich Verwaltungsberufe, d.h. laut Bericht der Arbeitsverwaltung „fast ausschließlich Mädchen“.