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Ausflugsziel mit Familien-Image

■ Baseball ist in den USA wesentlich mehr als nur ein Sport / Bei Popcorn und Eiskrem delektieren sich die Zuschauer an „screwballs“ und „catches“ und singen: „Take me out to the ball game“

Von Christoph Biermann

Chicago (taz) - Vom pitcher mit geheimnisvollem Dreh versehen, fliegt der Ball zwanzig Meter weit knallgeradeaus, sackt blitzartig um einige Zentimeter ab und will dann einfach am bat des hitters vorbeisausen. Aber bevor der breaking ball sicher im Fanghandschuh des catchers landen kann, klatscht der Schläger dazwischen. Und jetzt jagt der Ball weit über den baseball-diamond, über die hilflosen Verteidiger im Außenfeld hinweg und beendet seinen fast 120 Meter langen Flug auf den Tribünen.

Die Fans dort hinten haben sich ihm entgegengeworfen. Auch der restliche ballpark ist auf den Füßen und jubelt, die Orgeln produzieren triumphierende Akkorde, und schon steigt das Feuerwerk aus der Anzeigetafel, dem exploding scoreboard, auf. Ein home run der „Chicago White Sox“ ist zu feiern. Genüßlich schreitet Charlton Fisk die bases ab und nimmt die Ovationen der 35.000 Zuschauer im Comiskey Park entgegen.

Der amerikanische Sommer gehört dem Baseball. Die Rüstungen der Footballspieler liegen im Spind, die Basketballkörbe sind heruntergelassen und die Eishockeyfelder abgetaut. Im April beginnt die Saison des Nationalsports, die Serie der 162 Saisonspiele, die in den Play-offs um die penannts der American und National League und im September schließlich in die Spiele der „World Series“ mündet, der „Weltmeisterschaft“ im Baseball.

Keine amerikanische Sportart stößt in Europa auf weniger Verständnis und keine hätte mehr verdient. Die Wurfserien vom Baseball-Mound, dem kleinen Hügel, auf dem Charly Brown unter dem Gezeter seiner Schwester Luzy immer scheitert, wirken zunächst monoton und endlos. Die kurzen Spurts zu den bases und die langen Läufe der Verteidiger, die den Ball noch auffangen wollen, bevor er auf den Boden fällt, sind rätselhaft.

Aber nach langer Zeit, mit gutem Willen und vielen Erläuterungen schleicht sich die Begeisterung ein. Nicht nur der mächtige home run liefert den Kitzel, auch das Drama der so öde wirkenden Wurfserien enthüllt sich. Das ewige Duell zwischen dem Mann auf dem Hügel und dem Mann mit dem Schläger. Welche Wurfvariante wird gewählt? Wagt der pitcher einen Wurf durch die gefährliche strike zone schon jetzt, oder versucht er es im etwas sichereren Ballbereich?

Die Fachleute auf den Klappsitzen des Comiskey Park haben alle Daten dazu im Kopf. Wieviele strikeouts hat der pitcher in der letzten Zeit gemacht, wie oft hat er also die hitter „herausgeworfen“? War er besser gegen Links oder Rechtshänder? Wie gut sind die Verteidiger im infield? Wieviele Fehler hat der short stop gemacht? Konzentriert führen sie ihre Statistiken weiter. Auch die Kinder, die ihre Eltern um Popcorn und Eis anquengeln, und die Mütter, die tablettweise Burger und Hot Dogs heranschleppen, bringen sie nicht aus der Ruhe. Baseball ist schließlich ein Sport für die ganze Familie. Der ballpark ist mehr als eine Sportarena. Hierhin rückt die weiße Mittelschicht aus, um sich mit Freunden zu treffen, zu plaudern, in die Sonne oder den Abendhimmel zu blinzeln und mit immer neuem Nachschub aus den Katakomben des Stadions das Picknick fortzusetzen.

Die Baseballclubs haben die ballparks als Ausflugsziel mit Familien-Image gepflegt. Das zahlt sich aus. Die 28 Vereine der „Major League Baseball“ haben im Vorjahr einen Umsatz von umgerechnet zusammen 1,6 Milliarden Mark gemacht. Wie groß die Begeisterung für Baseball ist, zeigt das Beispiel Chicago. Die „White Sox“ und die „Chicago Cubs“ werden in diesem Jahr bei ihren jeweils 81 Heimspielen zusammen über 4 Millionen Zuschauer zählen. Es ist dabei absolut nicht unüblich, bei sechs Heimspielen in einer Woche jeweils über 30.000 Zuschauer im Stadion zu haben! Natürlich werden alle Spiele der beiden Vereine live im Fernsehen übertragen. Ein Tag ohne Baseball ist kein Tag.

Die erfolgreiche Rezeptur des Spiels ist das gemischte Angebot an den Zuschauer. Baseball kommt langsam, der home run ist die Ausnahme. Das erlaubt oberflächliches Interesse und gibt genug Gelegenheit für noch einen Gang zu den Imbißständen oder vom Fernseher in die Küche. Aber Baseball erlaubt auch den konzentrierten, fachkundigen Zuschauer, der zusehen kann und feinsinnig in Details versinkt. In den Regalen amerikanischer Buchgeschäfte stehen viele Bände mit intelligenten Baseball-Reportagen. Kein Sport hat zu so vielen geistreichen Betrachtungen inspiriert wie Baseball. Ring Lardner und Paul Gallico sind zunächst Baseball-Reporter gewesen und erst dann Schriftsteller geworden.

Nach der Hälfte des siebten innings erheben sich im Comiskey Park alle Besucher von ihren Sitzen. Ein Ritual steht bevor, das in allen Stadien zelebriert wird. Eine Beschwörung des Spiels und der eigenen Mannschaft. Für die letzten drei innings, für das Finale. Die Orgelspielerin da oben unterm Stadiondach, die bislang mit einigen Takten „Beach Boys“ oder „Rolling Stones“ die runs und hits auf der Klaviatur nachgezeichnet hat, gibt die Melodie vor. Und dann stimmen alle in die Baseballhymne ein. „Take me out to the ball game!“ Voller Überzeugung singen sie: „Und mir ist völlig egal, ob ich von hier jemals zurückkomme.“ Dann wendet sich ein jeder seinem Lieblingsaspekt des Spiels zu, dem Popcorn, den Souvenirständen oder der Statistik.

Carlton Fisk ahnt wieder einmal auf geheimnisvolle Weise die Flugbahn des screwballs und erhöht seine Quote der runs-batted-in. Die „White Sox“ gewinnen, und während der Besucherstrom in Richtung Suburbs verrinnt, sind die Reinigungstrupps schon im Einsatz. Morgen ist wieder ein Spiel.

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