Fatale Alternativen

■ Weltpolizei, Weltboykott oder was sonst?

KOMMENTARE

In den Diskussionen über den Fortbestand der Nato ist gegenüber dem Projekt einer europäischen Sicherheitsagentur oftmals eingewandt worden, es verpflichte die Teilnehmerstaaten nicht hinreichend gegenüber einem möglichen Aggressor und sei deshalb genauso zur Unwirksamkeit verurteilt wie entsprechende Versuche der Zwischenkriegszeit. Bezogen auf Europa, ist dieser Einwand nicht stichhaltig, denn mit der Einebnung des Systemgegensatzes Ost-West und der Existenz funktionierender, supranationaler Organisationen gewinnt die Idee friedlicher Streitschlichtung erstmals eine realistische Substanz. Freilich gilt es, auf der Hut zu sein vor einer Denkmethode, die - von einer erstrebten Norm der „Zivilität“ ausgehend - Modelle entwirft und deren Realisierung nur noch vom Wirken einer aufgeklärten Öffentlichkeit abhängig macht. Diese Warnung gilt a fortiori für Konflikte außerhalb Europas. Michail Gorbatschow hat in einer programmatischen Rede vor der UNO-Vollversammlung zur Stärkung der kollektiven Organe der Weltorganisation aufgerufen und dabei den „militärischen Arm“ ausdrücklich mitgemeint.

Die Fortentwicklung von UNO-Friedenstruppen zu effektiven Instrumenten der Kriegsbeendigung bzw. -verhütung hängt freilich von mehr ab als von einer Übereinkunft der Supermächte, EG-Europas und Japans. Sie setzt regionale Zusammenschlüsse voraus, die stabiler sein müssen als etwa die Contadora-Gruppe oder die ASEAN. Selbst wenn die Großmächte beteiligt sind, muß die Konfliktlösung im wesentlichen innerhalb der Krisenregion selbst erfolgen.

Anläßlich des Überfalls des Iraks auf Kuwait ultimativ nach einer multinationalen Streitmacht, einer Weltpolizei zu rufen und dabei das Völkerrecht und die Humanität zu bemühen, verrät bestenfalls Naivität. In der Region intervenieren gegenwärtig die USA und eine Reihe mit ihr verbündeter Staaten, die nicht einmal selbst den Anspruch erheben, im Namen einer künftigen, friedlichen Weltgesellschaft tätig zu sein. Dabei haben die USA mit der Stationierung von Truppen in vielfacher Divisionsstärke auf dem Boden Saudi-Arabiens die Grenzlinie einer Blockade, die die Rückkehr zum Status quo ante erzwingen will, schon hinter sich gelassen. Wenn also nach dem Weltpolizisten gerufen wird - er ist schon da. Deshalb kann die Frage nach der Legitimität einer militärischen Intervention gegen den Irak nur lauten, ob man für oder gegen die Intervention unter der Führung der USA eintritt.

Die Antwort hierauf ist keineswegs einfach. Denn es handelt sich eben nicht nur um Kanonenbootpolitik, die den Zugang der kapitalistischen Industrieländer zum Öl sichern will. In dem Regime Saddam Husseins verkörpert sich vielmehr eine Bereitschaft zur Verneinung des Völkerrechts und zum kaltblütigen Massenmord, die tatsächlich in der Tradition des Hitler-Faschismus steht. Sollte dieses Regime die militärische Hegemonie in der Region erringen, ist nicht auszuschließen, daß es eine militärische „Lösung“ des arabisch-israelischen Konflikts versuchen würde - mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln. Das Fatale ist nur, daß die amerikanischen Truppen in Saudi-Arabien dem irakischen Tyrannen eine Massenunterstützung in den arabischen Ländern verschafft, die - als Drohpotential gegenüber den konservativen Herrschern der Region zur Verwirklichung seines Machtanspruchs einzusetzen - er nicht zögern wird.

Aber auch die Gegenposition, einen bewaffneten Konflikt auf jeden Fall zu vermeiden und es bei einem Waffenembargo plus Ölboykott gegenüber dem Irak zu belassen, hat gefährliche, schwer überschaubare Konsequenzen. Die Waffenvorräte des irakischen Regimes sind beträchtlich, der Verlust von Deviseneinnahmen würde sich nicht unmittelbar umsetzen in politischen Druck, geschweige denn würde er eine aktionsfähige politische Opposition hervorbringen. Fraglich ist auch, wie lange der Boykott aufrechterhalten werden kann. Für ihn einzutreten, verschafft jene Form des guten Gewissens, dessen sich jene erfreuen, die unter keinem Handlungsdruck stehen. Aber selbst wenn das Kalkül der Boykott-Verfechter aufginge und Saddam Hussein in wirkliche Schwierigkeiten geriete, ist damit keineswegs ausgemacht, daß er die einmal errungenen Positionen räumen würde. Das Gegenteil ist wahrscheinlicher.

Bleibt die vage Hoffnung auf eine Krisenlösung durch die arabischen Staaten der Region. Diese Hoffnung auszusprechen, heißt beinahe, sie zu dementieren. Wie soll die Arabische Liga, die Zeit ihrer Existenz noch keinen konstruktiven Beschluß gefaßt hat, zu einer einheitlichen Verhandlungslinie gegenüber Saddam Hussein kommen und diese auch noch durchsetzen? Trotzdem: Zu den fatalen wäre dies die rettende Alternative.

Christian Semler