: Parteien in schlechter Verfassung
■ Meinungsstreit um Verfassungsänderungen: Die SPD plädiert für eine Ausweitung der Grundrechte / Die AL übt sich in „Verfassungspatriotismus“
Im Gegensatz zur CDU, die mit den jetzt vorliegenden Verfassungsänderungen zufrieden ist, haben die Koalitionsparteien SPD und AL weitergehende Forderungen, die in eigenen Anträgen formuliert werden sollen. Die Euphorie der CDU über die Einigung der Stadt und den Prozeß der Verfassungsgebung wollte die SPD in der gestrigen Plenarsitzung nicht teilen. Wegen der Kürze der Zeit, so der SPD-Verfassungsexperte Erhart Körting, sei es nicht möglich gewesen, eine ausführliche Verfassungsdiskussion zu führen. Neben den ausgehandelten Kompromissen zwischen den Fraktionen von SPD, AL und CDU würde die SPD gerne weitergehende Änderungen der Verfassung vornehmen:
Insbesondere bei den Grundrechten plädieren die Sozialdemokraten dafür, auch das Recht auf Arbeit, das Recht auf Wohnraum und die Gleichberechtigung der Frau bzw. deren Selbstbestimmungsrecht mit aufzunehmen. Danach wäre es auch Staatsaufgabe, für angemessenen Wohnraum und für Vollbeschäftigung zu sorgen. Die Gleichberechtigung der Frau ist zwar heute schon in den Grundrechten festgeschrieben, die „Verfassungswirklichkeit“, so mußte auch Körting einräumen, sei aber eine andere. Auch das Recht auf Selbstbestimmung darüber, ob eine Schwangerschaft fortgesetzt werde oder nicht, sollte nach Wunsch der SPD Grundrechtsrang erhalten - nötig wäre dann allerdings auch eine entsprechende Änderung des Grundgesetzes.
Die Alternative Liste gilt als die Partei, die dem Prozeß der Verfassungsgebung und Verfassungsdiskussion am meisten Bedeutung beimißt. Mit leichter Selbstironie bezeichnete die Fraktionsvorsitzende Renate Künast diese Haltung gestern als „Verfassungspatriotismus“, der aber im deutsch-deutschen Einigungsprozeß nicht sehr hoch angesehen sei. Die Fraktionsvorsitzende warnte davor, die Westberliner Verfassung lediglich durch einen „kühnen Federstrich“ auf ganz Berlin auszudehnen. Die AL lehnt es ab, daß nur eine einfache Mehrheit eines Gesamtberliner Parlamentes ausreichen soll, um die Ostberliner Verfassung außer Kraft zu setzen. Nach Auffassung der AL ist die neue Verfassung für ganz Berlin auch nur eine vorübergehende, erst das Gesamtberliner Parlament könne eine endgültige erarbeiten. Diese soll dann durch einen Volksentscheid in Kraft gesetzt werden. So steht es auch in der Verfassung von Ost-Berlin, die am 11. Juli von der Stadtverordnetenversammlung verabschiedet wurde.
Grundsätzlich fordert die AL, daß eine neue Verfassung sich „im Kampf von schwach und stark auf die Seite der Schwächeren stellt“. Konkret heißt das, rechtliche Barrieren zur Vermeidung von Umweltzerstörungen, mehr Rechte für Bürgerbewegungen, die Pflicht des Staates zur Gleichstellung von Mann und Frau und ein Diskriminierungsverbot alternativer Lebensformen festzuschreiben.
kd/chrib
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