: Venezuela: Tanz auf dem Vulkan
■ Die soziale Unsicherheit nimmt zu / Eine neue Benzinpreiserhöhung läßt eine Wiederholung der Unruhen vom Februar 1989 befürchten
Von Jörg Tredup
Rangel Salas Olivero, 24, bezahlte seinen Mut mit dem Leben. Als er sich weigerte, Straßenräubern seine Schuhe zu übergeben, wurde er niedergestochen und erlag wenig später seinen Verletzungen im Krankenhaus. Eine Zeitungsmeldung berichtete am nächsten Tag lakonisch, daß Olivero bereits der dritte Fall innerhalb weniger Wochen in der Provinzmetropole Ciudad Bolivar war, der wegen seiner Schuhe ermordet wurden. Markenturnschuhe sind heißbegehrt in Venezuela.
Auch außerhalb der Hauptstadt nimmt die soziale Unsicherheit und die Kriminalität zu. In Caracas sind ein Dutzend Tote an einem ganz normalen Wochenende bei nächtlichen Auseinandersetzungen keine Seltenheit. Die Stimmung ist explosiv. Gerade hat Carlos Andres Perez, von der sozialdemokratisch orientierten Regierungspartei Accion Democratica (AD) gestellter Präsident, eine neue Benzinpreiserhöhung angekündigt, gegen den Widerstand vieler seiner Parteigenossen. Der Benzinpreis ist ein neuralgischer Punkt in diesem OPEC-Land. An ihm hatten sich am 27./28.2.89 die schwersten Unruhen seit Jahren entzündet.
Nur zwei Wochen nach seiner prächtigen Amtseinführung am 2.2.89, zu der die gesamte Politprominenz Lateinamerikas und andere Berühmtheiten wie Willy Brandt und Gabriel Garcia Marquez erschienen waren, verkündete Perez ein hartes Sparprogramm, offensichtlich unter dem Druck des IWF: drastische Kürzung von Subventionen für Lebensmittel, Personal- und Lohnabbau im öffentlichen Dienst, Schaffung neuer Verbrauchssteuern sowie Abschaffung zahlreicher Sozialleistungen wie öffentliche Kindergärten.
Viele Venezolaner hatten sich von Perez, den sie mit absoluter Mehrheit gewählt haben, gerade das Gegenteil versprochen: Schließlich konnten während seiner ersten Amtsperiode von 1974 bis '79 (in Venezuela ist die Wiederwahl des Präsidenten erst nach 10 Jahren möglich) auch die ärmeren Schichten in bescheidenem Umfang an dem Reichtum partizipieren, der damals so reichlich ins Land floß. Perez hatte diese Erwartungen während seines Wahlkampfes auch noch kräftig geschürt, indem er versprach, die „goldenen Zeiten“ würden unter seiner Ägide wiederkommen. Doch angesichts leerer Kassen, der vierthöchsten Schuldenlast Lateinamerikas, steigender Inflation (im Wahljahr gab es kaum Preiserhöhungen, um die Regierungspartei AD nicht zu diskreditieren) und drohender Zahlungsunfähigkeit mußte sich auch der „Magier“ Perez dem Diktat des IWF beugen, dessen Politik er vorher so gerne angegriffen hatte.
Als am 27.2.89 eine 30prozentige Spritpreiserhöhung in Kraft trat und die städtischen Busfahrer dies zu einer 100prozentigen Fahrpreiserhöhung nutzten, brach sich der Volkszorn Bahn. Für die Venezolaner ist ein Benzinpreisanstieg besonders unverständlich, haben sie doch genug von diesem Rohstoff und halten die billigsten Spritpreis des Kontinents deshalb auch für eine Selbstverständlichkeit. Als die ersten Busse brannten, die ersten Geschäfte in den Barrios von Caracas geplündert waren und die Polizei sich eher abwartend verhielt, setzte sich der Protest in der Innenstadt fort. Die Spitzen von Parteien und Institutionen glänzten durch Abwesenheit, der Staat erschien an diesem 27.Februar auf einmal führerlos und so dauerten die Unruhen den ganzen Tag über an. Auf diese Weise konnten Bewohner der Barrios doch endlich einmal an der bunten Warenwelt, die ihnen täglich per TV in die Bretterbuden flimmert, teilhaben.
Erst am nächsten Tag erwachte Präsident Perez aus seiner Lethargie und rief den Ausnahmezustand aus, setzte das Militär ein und verhängte nächtliche Ausgangssperre. Jetzt wurde scharf geschossen und die Leute auf der Straße, die einen kurzen Tag der Anarchie erlebt hatten, konnten es zuerst nicht glauben. Doch die Auseinandersetzungen forderten viele Opfer. Bis heute schwanken die Angaben über die Zahl der Toten zwischen 300 (offizielle Angabe) und 1.000. Auf der Suche nach angeblichen Heckenschützen durchkämmten bewaffnete Trupps die Außenbezirke, Maschinengewehrfeuer durchschlug die dünnen Wände der Wohnblocks in einigen Barrios, so daß dort auch viele Unbeteiligte starben. Polizei und Militär nutzten die Gelegenheit dazu, persönliche Rechnungen zu begleichen, es gab zahlreiche sogenannte „Verschwundene“. Während des eine Woche dauernden Ausnahmezustands übernahm der Verteidigungsminister de facto die Macht.
Bisher zeigte sich das Militär stets loyal gegenüber den Politikern, ließ sich das aber durch immer höhere Haushaltsmittel honorieren. Trotzdem reißen Gerüchte über einen möglichen Staatsstreich seit dem Februar 1989 nicht ab.
Nachdem sich die Lage im Land durch die Intervention des Militärs wieder beruhigt hatte, zeigten sich alle Politiker gleichermaßen entsetzt über diese „unvermittelte soziale Explosion“ (Perez). Sofortkredite, unter anderem von Spanien und den USA, veränderten die wirtschaftliche Lage Venezuelas jedoch nur wenig und beschleunigten nur den ruinösen Kreislauf von wachsendem „Schuldendienst“ durch steigende Verschuldung. Solange der IWF die Rahmenbedingungen der venezolanischen Wirtschaft bestimmt, wird es keine Ruhe im Land geben.
Währenddessen reist Carlos Andres Perez, verhandelt heute mit Spaniens Felipe Gonzales, spricht morgen auf einer Tagung der Entwicklungsländer in Malaysia. Er gilt als die wichtigste Person der Sozialistischen Internationale (SI) in Lateinamerika und kümmert sich um die Probleme der Nachbarländer. In die Niederungen der Politik seines Heimatlandes begibt er sich dagegen selten. Noch scheint er
-nach Umfragen - bei einem Großteil der Bevölkerung populär zu sein, doch die Spruchbänder mit Parolen wie „Perez bleib‘ in Malaysia“ häufen sich. Immer öfter wird die Einführung des Amtes eines Premierministers verlangt, der sich um die nationale Tagespolitik kümmern soll.
In Venezuela nimmt die Kriminalität im politischen Leben zu: Die wachsende Korruption in Administration, Justiz und Heer stellt die Glaubwürdigkeit dieser Institutionen in Frage. Gerade hat das oberste Gremium der Regierungspartei AD acht der Korruption überführte Parteigenossen amnestiert. Ständig kommen neue Skandale an die Öffentlichkeit.
Neue Preiserhöhungen stehen an, neben dem Benzin (90 Prozent in mehreren Etappen) sollen auch die Fleischpreise drastisch angehoben werden. Schon hat es neue Protestmärsche gegeben. In Los Teques, einer Kleinstadt in der Nähe von Caracas, besetzte das Militär nach gewaltigen Demonstrationen Straßen und Plätze. In Maracaibo, der zweitgrößten Stadt des Landes, kam es zu mehrtägigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, die den Verkehr paralysierten. Selbst auf der Ferieninsel Margarita, wo letztes Jahr immerhin 12.000 Bundesbürger Urlaub machten, kam es zu Ausschreitungen, so daß die Duty-free-Shops vorübergehend ihre Auslagen verschließen mußten.
Der Glaube an das demokratische System geht verloren, 20 Prozent Nichtwähler beim letzten Urnengang sprechen eine deutliche Sprache. Gerade ein Volk, das während einer, wenn auch kurzen, Periode etwas am Wohlstand teilhaben konnte, wird eine erneute Pauperisierung von bis zu 80 Prozent der Bewohner nicht so ohne weiteres hinnehmen. Die „städtischen nichtorganisierten Massen“, bereits als neuer sozialer Faktor gehandelt, werden aufbegehren.
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