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Zu wenig- und zu spät gegeben

■ Gorbatschows Dekret über die Wiedereinbürgerung der Herausgeworfenen

KOMMENTARE

Gorbatschows Dekret über die Rückgabe der Staatsbürgerschaft an 23 Intellektuelle und 150 weitere Bürger, die zwischen 1966 und 88 ausgebürgert worden sind, zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, die für den Regierungsstil des sowjetischen Präsidenten charakteristisch sind: es kommt zu spät, und es bleibt auf halbem Wege stehen. Weder wurden die Urteile aufgehoben, auf Grund derer die Dissidenten vor ihrem Rauswurf im Gefängnis saßen, noch entschuldigte man sich für die Verleumdungskampagnen, mit denen sie überzogen wurden. Vor allem aber wurde das Gesetz selbst, nach dem seit 1966 Staatsbürgerschaften kassiert werden konnten, nicht außer Kraft gesetzt. Weiter gilt nicht Recht, sondern Zarengnade. Noch immer sind die Menschenrechte an Personaldokumente gebunden, und der Mensch ist, wie Brecht einmal in den „Flüchtlingsgesprächen“ geschrieben hat, in Krisenzeiten hauptsächlich Träger eines Passes. Alexander Ginsburg, einer der potentiellen Nutznießer von Gorbatschows Dekret, hatte deshalb Recht, als er erklärte, daß die Maßnahme Gorbatschows vielleicht für seine Innenpolitik nützlich sei, aber für die Menschenrechte keinen Fortschritt brächte.

Aber auch hinsichtlich eines möglichen Nutzens des Dekrets für die Innenpolitik sind Zweifel angebracht. Längst sind die bedeutenden Schriftsteller und Denker der Emigration „heimgeholt“, sind Partei im Streit, vor allem in der entscheidenden Frage über das künftige Verhältnis Rußlands zum „Westen“. Selbst die extemsten Urteile Alexander Solschenizyns über die Oktoberrevolution und die Notwendigkeit, Rußland im Geist der Raskolniki, der „Altgläubigen“ zu erneuern, gehören heute zum Common Sense der Wertkonservativen. Vor drei Jahren noch wäre die Ankündigung, der Archipel Gulag zu veröffentlichen und Solschenizyn zu rehabilitieren, als mutiger Schritt begrüßt worden. Jetzt erscheint Gorbatschows Dekret als bloße Formalie, vor allem, wenn man es mit der in geradezu emphatischem Ton gehaltenen Einladung des russischen Ministerpräsidenten Silajew an Solschenizyn in Beziehung setzt. Wer immer von einem Besuch des Dichters oder der anderen ausgebürgerten Intellektuellen profitieren wird, Gorbatschow wird nicht zu ihnen gehören.

Dennoch, selbst wenn die meisten Ausgebürgerten die Einladung, wieder Sowjetbürger zu werden, zurückweisen durch das Dekret wird das schon immer spannungsreiche Verhältnis zwischen Rußland und seiner westlichen Emigration temperiert werden. Normalität wird einziehen. Sie wird Menschen wie Lew Kopelew die Arbeit erleichtern, der mehr als jeder andere für die Verständigung nicht der Regierungen, sondern der „zivilen Gesellschaften“ der Sowjetunion und Deutschlands getan hat. Ob er nun künftig einen sowjetischen, einen russischen oder deutschen Pass an der Grenze präsentieren wird oder auch alle drei: er nimmt in seiner Person einen Zustand vorweg, in dem in Europa und das schließt auf alle Fälle Rußland mit ein - die Frage der Nationalstaaten und damit der Staatsbürgerschaft ihr so oft erdrückendes Gewicht verlieren wird.

Christian Semler

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