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Die Prager erinnern sich an 1968: Ein Panzer wird gestürzt

■ Vaclav Havel fordert Tschechen und Slowaken dazu auf, die immer noch bestehende „totalitäre Mafia“ zu bekämpfen und die alten Machtstrukturen zu verändern

Berlin/Prag (taz/dpa) - Als der sowjetische Panzer vom Typ T-55 endlich vor den ZuschauerInnen von Polizisten mit Hilfe eines Krans umgeworfen wurde, klatschte das Publikum begeistert. Und als auf der Unterseite des Ungetüms, von denen am 21. August 1961 einige Dutzend in die Prager Innenstadt gerollt waren, die Aufschrift „Solidarnosc“ und die tschechoslowakische Nationalflagge sichtbar wurden, war einer der Höhepunkte des Happenings auf dem Wenzelsplatz erreicht.

Schon am frühen Morgen, kurz nach der Öffnung der U-Bahnen, verteilten sich als Soldaten verkleidete Jugendliche in der gesamten Innenstadt und mimten die Invasion von damals, als sie sowjetische Armee zusammen mit Truppen aus Polen, Ungarn, Bulgarien und in begrenztem Maße auch der DDR dem „Prager Frühling“ ein Ende machten. Theatergruppen führten auf Plätzen und Bahnhöfen meist satirische Stücke auf, Musik ertönte in den Gassen der Altstadt. Augenzeugenberichte und Schilderungen des Tages vor 22 Jahren füllten die tschechoslowakischen Zeitungen.

Damals, 1968, als sowjetische Soldaten die strategisch wichtigen Punkte der Stadt besetzten'war es noch anfänglich zu erregten Diskussionen mit der Bevölkerung gekommen. Doch schon bald durftendie sowjetischen Soldaten kein Wort mehr mit den Tschechen wechseln. Jede Kontaktaufnahme von siten der Prager wurde mit harschen Attacken der Sowjewtsoldaten beantwortet. Um 12 Uhr mttags an jenem denkwürdigen Tag waren die Rundfunksendungen eingestellt worden. Damit war für alle klar, daß jeglicher Widerstand zwecklos war. Als Zeichen der Trauer und des Protestes zogen die Menschen damals mit blutbespritzten Fahnen schweigend durch die Staßen, viele weinten, einige hatten ein Trauerflor angelegt.

Alexander Dubcek, die damalige Führerfigur, der nach der Revolution von 1989 auf den eher repäsentativen Posten eines Parlamentspräsidenten gewählt wurde, erinnerte an die Rolle der Massenmedien während der Zeit des Aufbruchs 1968, als er auf dem Dach der Radiostation in Prag eine Gedenktafel einweihte. Höhepunkt des Jahrestages sollte dann am gestrigen Nachmittag die Rede des früheren Dissidenten und Mitglieds der Charta 77, Vaclav Havel, auf dem Wenzelsplatz sein. Mit Massendemonstrationen auf diesem Platz im Zentrum Prags hatte im November die politische Wende im Lande ihren Anfang genommen.

Vor über 100.000 TeilnehmerInnen appellierte der Staatspräsident an die Menschen, „die Revolution von 1989 fortzusetzen“. Unter dem Beifall der Menge forderte Havel energischere Schritte bei der Zerstörung der immer noch wirkenden Machtstrukturen, die er als „totalitäre Mafia“ bezeichnete. Sie existiere noch bis in die föderativen Ministerien hinein. Er beschwor den Geist der Novemberrevolution. Bei dem Aufbauwerk müßten allgemeine Interessen über die von Parteien und einzelnen gestellt werden.

Besonders bewegend war die Ehrung von sieben SowjetbürgerInnen, die am 25. August 1968 auf dem Roten Platz in Moskau gegen den Einmarsch protestiert hatten und festgenommen worden waren. Der Bürgermeister von Prag, Jaroslav Koran, verlieh ihnen die Ehrenbürgerschaft der Stadt. Unter den Teilnehmern dieser Zeremonie befand sich auch die sowjetische Dissidentin Jelena Bonner.

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