: Kulturrausch in Spanien
■ Über Internationalisierung, Cocktailparties und
Blankoschecks
Von Norbert Rehrmann
Mitte der fünfziger Jahre, als das damalige Franco-Regime mit ausländischer Hilfe eine Art „spanisches Wirtschaftswunder“ in Gang setzte, wurde der Verkauf von Sonne und Folklore zur - saisonal - bedeutendsten Wirtschaftsbranche des Landes. Playa, Flamenco und Toreros waren die kulturellen Hauptofferten. Der eifrig propagierte Carmen-Mythos, zuletzt in der Version von Carlos Saura, tat ein Übriges. Heute dagegen ist das ehemals „andere“ Spanien bemüht, seine Palette kultureller Angebote drastisch zu diversifizieren. Was liegt da näher, als dem kulturversessenen Zeitgeist Europas den Weg über die Pyrenäen zu bahnen? Mit der ersten sozialistischen Regierung, 1982, begann, daher auch in Spanien ein kultureller Boom, der so ziemlich alle Facetten aufweist, die auch hierzulande zu beobachten sind; dort allerdings auf besonders großem Fuß und mit atemberaubenden Transnationalisierungstrends.
So dominiert in 'Radio Television Espanola‘ platteste Unterhaltung, vor allem nordamerikanische Serien, und Werbespots nach USA-Vorbild erlebten einen steilen Aufschwung, der durch die privaten Sender, die im letzten Jahr das Plazet der Regierung erhielten, weiter forciert werden dürfte. Noch deutlicher verläuft dieser Trend auf dem Buchsektor, wo bereits 60 Prozent aller Übersetzungen nordamerikanische Originale sind, deren Auflagen zudem im Schnitt um ein Drittel höher liegen als der Rest. Und die Verkaufserlöse von - ebenfalls primär US-amerikanischen Platten und Kassetten schlagen alle europäischen Rekorde und kletterten von 6 Milliarden (1975) auf 50 Milliarden Peseten im Jahre '89.
In den steilen Transnationalisierungskurven liegt denn auch die eigentliche raison d'etre des Madrider Kulturministeriums, das noch bis Anfang der achtziger Jahre ein Schattendasein fristete bzw. während des Franco-Regimes Zensur- und Propagandaaufgaben erfüllte. Mittlerweile sind diese Funktionen passe, statt dessen trug das Ministerium erheblich dazu bei, daß auch in Spanien die - vermeintliche
-Autonomie der Schönen Künste vom Wertgesetz entthront worden ist. Mit dem Einzug der Sozialisten in das pittoreske Gebäude an der Plaza del Rey erlebte das Ministerium seine eigentliche Blüte, die, so der damalige Minister, auch in Spanien die Möglichkeit schaffte, den Wohlfahrtsstaat durch den Kulturstaat zu ersetzen.
Tatsächlich wuchs der Kulturetat in der Legislaturperiode 1982-86 mit circa 90 Prozent überproportional an. Der Aufwärtstrend der Anfangsjahre setzte sich bis heute unvermindert fort. 1988 erlebte das Kulturbudget eine weitere Steigerung um 16 Prozent, und für 1990 kündigte der seit 1988 amtierende Minister, der renommierte Roman- und Filmautor Jorge Semprun, eine erneute Verdoppelung (!) seines Etats an. Dabei geht es der Administration, glaubt man ihren Worten, nicht nur um „glanzvolle Veranstaltungen“, sondern primär darum, das, so wörtlich, „starke kulturelle Gefälle nach Klassen und Regionen“ zu überwinden. Betrachtet man die Zahlen näher, wird indessen deutlich, daß kulturellen Großprojekten wie dem im Bau befindlichen Auditorio Nacional, dem Prado-Museum, der Weltausstellung und dem kulturellen Beiprogramm der Olympiade 1992 der Löwenanteil zufließt.
An dem eklatanten Mißverhältnis zwischen (legitimer) Förderung der Hochkultur und der Vernachlässigung von Volks und Massenkultur sowie der kulturellen Infrastruktur jenseits teurer Prestigeobjekte änderte bislang auch Semprun im Grundsatz nichts. Er erklärte zwar 1988 die Schaffung eines „soliden Netzes“ öffentlicher Bibliotheken zur „vordringlichsten Aufgabe“ seines Portefeuilles, praktische Resultate sind jedoch bislang nicht zu erkennen. Mehr noch: In den neuesten Erklärungen taucht der „Bibliothekenplan“ überhaupt nicht mehr auf.
Wie dringend gerade eine Reform der 800 Bibliotheken wäre, deren Standard vor Griechenland das europäische Schlußlicht bildet, mag ein Beispiel illustrieren, das sich immerhin auf die Biblioteca Nacional in der Hauptstadt bezieht: Lange Schlangen von Studenten am Eingang, die mangels Alternativen dort ihren Arbeitsplatz einrichten, ein permanentes Hin und Her von Leuten, extrem defizitäre Buchbestände... Vor diesem Hintergrund erhält die Forderung der spanischen EG -Parlamentarier, in Brüssel eine „Basisbibliothek europäischer Autoren“ einzurichten, ihre besondere Note.
Besser, was die staatliche Förderung betrifft, geht es dem Film, wenngleich der transnationale Einfluß auch hier das Bild bestimmt. Dennoch wurde die Infrastruktur sträflich vernachlässigt. Die Konsequenzen, primär für die Filmtheater, waren verheerend. Von den circa 5.000 registrierten Kinos des Jahres '75 waren etwa zehn Jahre später nur noch rund 3.000 übrig, während sie zum Beispiel im selben Zeitraum in Frankreich von 3.500 auf über 5.000 expandierten. Zahlen vom Frühling dieses Jahres zeigen, daß ihre Gesamtzahl in den letzten fünf Jahren nochmals um die Hälfte geschrumpft ist. Die ländlichen Regionen, die die Sozialisten nachhaltig fördern wollten, wurden besonders hart betroffen. In einigen Gebieten läßt sich ein regelrechter Kahlschlag konstatieren, der selbst Provinzhauptstädte nicht verschonte: So gab es im zentralspanischen Segovia zwei Jahre überhaupt kein Kino. Ob die im Frühjahr 1990 beschlossene Reform des Subventionssystems (das sogenannte decreto Semprun), die nach den Worten des Ministers die Staatsabhängigkeit des Filmsektors verringern, die privaten Produzenten und Spnsoren dagegen zu größeren Investitionen und Risiken anregen soll, zur Besserung der Lage führt, darf gleichwohl bezweifelt werden. Denn zu deutlich ist der allgemeine Trend, der auch in dieser Reform angelegt ist, nämlich die Schaffung von Infrastrukturen und die Sicherung kultureller Souveränität transnationalen Interessen, Prestigeproduktionen und plattestem Divertimento zu opfern. Ein Angebot der amerikanischen Filmindustrie, mit Spanien zu „paktieren“, ließ denn auch nicht lange auf sich warten.
Demgegenüber ist der Boom der Schönen Künste eines der auffälligsten Charakteristika auch der spanischen explosion cultural. Darauf weist bereits das große Interesse internationaler Kunstzeitschriften hin, die wie 'Kunstforum‘, 'Flash-Art‘ und 'artscribe‘ der spanischen Kunstszene Schwerpunktthemen und lange Artikel widmeten. In dieses Bild paßt, daß eine der potentesten Galerien der Welt, die nordamerikanische Marlborough, in Spanien eine Dependance eröffnete, und ARCO, eine internationale Messe zeitgenössischer Kunst, jährlich neue Umsatz- und Besucherrekorde verzeichnet. Und die Überlassung der Thyssen -Sammlung ließ den spanischen Blätterwald monatelang rauschen - selbst jenen Teil, der zuweilen auch die Schattenseiten der Prachtkultur beleuchtet. Der mit einer Katalanin verheiratete deutsche Baron scheint sich aber trotz der finanziellen und sicherheitstechnischen Konzessionen der Spanier um das Schicksal seiner Sammlung Sorgen zu machen. Sollten sich die Katalanen von Spanien unabhängig machen, ließ er die dortigen Kulturpolitiker wissen, werde er die dem katalanischen Pedralbes-Kloster überantworteten Gemälde „zurückziehen“ und nach Madrid schicken.
Bei alledem beschränkt sich die Konjunktur der Kultur nicht allein auf die Kapitale. Denn kulturelle Dauerfeuerwerke und pompöser Festaufwand mit internationalem Flair, vor deren Kulisse die eigenen Kulturtraditionen nur als touristenorientierter Trachtenfolklorismus figurieren, beherrschen auch das kulturelle Regionalgeschehen. Ein eloquentes enfant terrible der spanischen Literatur, Rafael Sanchez Ferlosio, brachte diese Seite der Kulturpolitik polemisch auf den Begirff, als er sie mit dem bekannten Göring-Zitat verglich: „Wenn dieser sagte“, so Ferlosio, “'jedes Mal, wenn ich das Wort Kultur höre, entsichere ich die Pistole'“, verhielten sich die Sozialisten so, als sagten sie: 'Sobald ich das Wort Kultur höre, stelle ich sofort einen Blanko-Scheck aus.'“ Die Sache werde dadurch noch schlimmer, daß diese Kriterien auch von den Regionalregierungen übernommen würden. Eine aufwendige „Aktomanie“ und die Tendenz, so Ferlosio, die Intellektuellen zu „Cocktailsäufern“ zu degradieren, scheint in der Tat ein Charakteristikum regionaler Kulturpolitik zu sein, selbst derjenigen Regionen - und damit der Mehrheit -, die durch hohe Arbeitslosigkeit und Emigraton zum iberischen Teil der Dritten Welt gehören.
Deren kultureller Eifer erklärt sich zum Teil durch den Wandel der weiland langweiligen Bürokratenstadt Madrid zur, so der 'Spiegel‘, „verrücktesten Metropole Europas“. Dem konnte die selbsternannte „Avantgarderegion“ Katalonien natürlich nicht tatenlos zusehen und erhöhte ihr Kulturbudget 1989 um 46 Prozent. Die Provinz Vigo, in der nordwestlichen Problemregion Galicien, stockte den Kulturetat um 700 Prozent (!) auf. Kulturelle Prestige- und Großprojekte sichern sich auch dort den Hauptanteil.
Ein eindrucksvolles Beispiel kulturpolitische Megalomanie, zugleich eine Burleske besonderer Art, lieferten Ende Juli dieses Jahres die beiden galicischen Städte La Coruna und Vigo. Das vom sozialdemokratischen PSOE regierte Vigo organisierte ein Konzert mit Madonna, während just zur selben Zeit in La Coruna, das ebenfalls vom PSOE regiert wird, Prince über die Bühne tingelte. Den verdutzten Fans, die sich notgedrungen für eines der beiden Superspektakel entscheiden mußten, boten die beiden Bürgermeister im Vorfeld der Konzerte eine Gratisgroteske, indem sie sich in den Medien gegenseitig der Obstruktion beschuldigten, obgleich, wie die Medien berichteten, mehrere Ausweichtermine möglich waren. Während die Opposition von Verschwendung sprach, da für beide Konzerte öffentliche Bürgschaften von einer halben Million Mark geleistet werden mußten, und Kritiker darauf verwiesen, daß im laufenden Jahr kein einziger Regionalmusiker in den Genuß öffentlicher Subventionen gekommen sei, beteiligte sich Prince auf seine Art an dem Theater: Er ließ die enervierten Organisatoren in letzter Minute wissen, daß er nur komme, wenn man ihm ein himmelblaues Bett mit luftgefüllten Matratzen und eine nierenförmige Badewanne in die Hotelsuite stelle. Die gewünschten Accessoires wurden kurzerhand aus Frankreich besorgt.
Der alte Zentrum-Peripherie-Konflikt wird dadurch jedoch nicht entschärft. So beschuldigte der katalanische Kulturminister den Madrider Kollegen der permanenten „Aggression“ gegen die plurinationale Realität des Landes, da bei internationalen Ausstellungen im In- und Ausland die kulturellen Produktionen der einzelnen Regionen kaum vertreten seien und der größte Teil der Kulturausgaben, nämlich 53 Prozent, der Hauptstadt zukomme. Zugleich foderte er die Auflösung des Madrider Ministeriums, da Kulturpolitik ausschließlich Sache der Regionen sei, eine Forderung, der sich kürzlich auch die Kommunisten angeschlossen haben. Ein im Frühsommer zwischen Barcelona und Madrid ausgehandelter Pacto Cultural dürfte den „Kulturkampf“ zwischen Zentrum und Peripherie nur unwesentlich entschärfen.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, wenn sich die „gekränkten“ Regionen revanchieren, indem sie zum Beispiel bei lokalen Ausstellungen lediglich Künstler aus dem Umland zeigen und die Katalogtexte nur in den Regionalsprachen verfassen. Die damit verbundene Gefahr einer „kulturellen Apartheid“ ('Kunstforum‘) ist jedoch nicht neu. Neu ist indessen, daß der alte Zentrum-Peripherie -Konflikt zumindest in diesem Bereich kaum noch mit den Argumenten kultureller Differenz ausgetragen wird. Der universelle Charakter der dominanten Kunst und Kultur - in Zentrum und Peripherie gleichermaßen forciert - könnte der kulturellen Eigenheit daher schon bald ihre Legitimation entziehen. Und das haben bekanntlich nicht einmal die Einheitsobsessionen des Franquismus geschafft.
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