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Sie stehen längst wieder mit dem Rücken zur Wende

■ Das Bündnis 90 im Bezirk Mitte: Die Bürgerinitiative Spandauer Vorstadt, das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte und die Grüne Partei / Die Bürgerbewegung leidet am Parlamentarismus; die ständigen Wahlen verhindern Diskussionen von Grundsatzfragen

Mitte - das ist der geschichtsträchtigste Bezirk von Berlin und vielleicht der zukunftsträchtigste. Hier siedelten vor 752 Jahren die ersten Berliner, hier residierten die preußischen Könige, der Terrorist Adolf Hitler, die Oberhäupter des SED-Staates, und hier wird sich in Zukunft die gesamtdeutsche Hauptstadt in irgendeiner Weise materialisieren.

Mit Krieg und Terror hat der Bezirk Mitte in die ganze Welt reingepfuscht, nun „will die ganze Welt in Mitte reinpfuschen“. Letzteres glaubt zumindest ein West-Berater von Bezirksbürgermeister Benno Hasse vom Bündnis 90, der derzeit mit allen möglichen potentiellen Investoren verhandelt.

Ein vom Bündnis 90 gestellter Bürgermeister - auch das ist ein historisches Kapriölchen. Hier hat die Bürgerbewegung, die im Herbst 1989 den Kopf hinhielt und nun längst wieder mit dem Rücken zur Wende steht, eine ihrer letzten Bastionen. Doch die Basisgruppen des Bündnisses 90 - das sind in Mitte das Neue Forum, Demokratie Jetzt, die Initiative Frieden und Menschenrechte, die Grüne Partei und die Bürgerinitiative Spandauer Vorstadt - spüren eher Überforderung denn Freude. Die bezirkliche Vergangenheit und Zukunft und die anstrengende Gegenwart des Parlamentarismus lastet auf ihnen.

Es bröckelt in der Bürgerinitiative

„Ich schaffe es gerade mal, die ganzen Papiere zu lesen und von einem Termin zum anderen zu hetzen“, stöhnt Uschka Thierfelder, die als Mitglied der Bürgerinitiative Spandauer Vorstadt in die Stadtbezirksversammlung gewählt wurde. Mit ihrem Mann Eberhard, Innenarchitekt und Designer wie sie, wohnt die Bezirksverordnete in einem jener langsam zerbröselnden Häuser, die das historische Ambiente der „Spandauer Vorstadt“ ausmachen. Jene einzigartige Vorstadt, die Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts vor dem Spandauer Tor am heutigen Marx-Engels-Platz gebaut wurde, ist vor drei Monaten als Ganzes unter Denkmalschutz gestellt worden. Das haben die zuvor vom Abriß ihrer Häuser bedrohten Bewohner den Bemühungen der Bürgerinitiative zu verdanken, die sich im November 1989 gründete. „Anfang dieses Jahres haben wir noch viele Aktionen und eine große Unterschriftensammlung für den Denkmalschutz gemacht“, erinnert sich die Abgeordnete. „Und dann kamen Wahlen und dann noch mal Wahlen und jetzt bald wieder Wahlen. Da blieb nur noch ein harter Kern übrig.“

„Der harte Kern“ von vielleicht zwei Dutzend AktivistInnen trifft sich immer noch jeden ersten und dritten Donnerstag im Monat um 19.30 Uhr in der Mullackstraße 30. Bereits im Mai hatte die Bürgerinitiative die Bewohner befragt, was im Kiez am dringlichsten fehlt - vor allem Kindergärten, Kneipen, Kleingewerbe. „Daraus haben wir ein städtebauliches Konzept entwickelt“, berichtet das Ehepaar Stark - er Kraftwerksingenieur, sie in leitender Position bei der Reichsbahn. Und nun sei man mit der aufreibenden Aufgabe befaßt, diese Bürgerwünsche mit dem „Boom von Anfragen potentieller Investoren“ zusammenzubringen - einen Einzug von Kaufhallen und Großbüros wolle man ja gerade verhindern. Sowohl von den Mitarbeitern der zuständigen Behörden als auch von den Bürgern käme wenig Unterstützung: „Auf der Straße werden wir oft von Leuten angesprochen, die selbst nichts tun: Was macht denn unsere Bürgerinitiative?“

Demokratie Jetzt oder Wahlen Jetzt?

Auch Wolfgang Hübner spürt am eigenen Leib, daß „wieder nur Multifunktionäre übrigbleiben“. Der grauhaarige Hübner ist Doktor am Institut für physikalische Chemie, Personalrat und Erster Sprecher der Basisgruppe von „Demokratie Jetzt“ im Bezirk Mitte. Anfang des Jahres saß er in Mitte am Runden Tisch und versuchte dort unter anderem dafür zu sorgen, daß die „Topographie des Terrors“ im ehemaligen Regierungsviertel der Nazis an der Otto-Grotewohl-Straße nicht vollständig untergepflügt würde. Nun plagt ihn die Sorge, „ob wir alle hier wohnen bleiben können, wenn Mitte zur City wird und noch andere Daimlers kommen“. Familie Hübner wohnt nämlich an der Friedrichstraße - jenem von westlichen Aufkäufern überrannten Boulevard, dessen Zukunftsgestaltung sich Ministerpräsident Lothar de Maiziere gar persönlich vorbehalten hat.

Thierfelders, Starks, und Hübners - die Basis der Basisgruppen innerhalb der DDR-Bürgerbewegung scheint sich in Eheform organisiert zu haben. Erika Hübner, selbstbewußte Leiterin einer Sozialberatungsstelle, beklagt, „daß man vor lauter Wahlvorbereitungen seit Februar nicht mehr dazu kommt, Grundsatzfragen der Bürgerbewegung zu diskutieren“.

Kleine Menschenrechtsinitiative

„Dieses Jahr wählen wir viermal! Eigentlich müßte man dagegen klagen“, findet auch Annette Detering von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“, Stadtverordnete für das Bündnis 90. Die seit 1985 bestehende Initiative ist zu klein, um sie in Bezirksgruppen zu unterteilen. Rund 50 IFM -Mitglieder arbeiten derzeit berlinweit an Themen wie Kriegsdienstverweigerung oder Strafvollzugsreform. Annette Detering hat vor, sich in das neue Büro in Mitte „hineinzuhängen“, das die rund 30 Bezirksmitglieder von Demokratie Jetzt und die rund 50 vom Neuen Forum gerade gemeinsam aufbauen.

Neues Forum der Gemeinsamkeiten

„Wir arbeiten sehr gut zusammen, es gibt eigentlich keine Gruppenunterschiede mehr.“ Was Martin Garber vom Neuen Forum hier für die Bezirksfraktion des Bündnisses 90 formuliert, gilt nunmehr in weiten Teilen auch für dessen Basisgruppen. Sinnfälligster Ausdruck ist eben jenes neue gemeinsame Büro, eine frisch gestrichene Kellerwohnung in der Zionskirchstraße 23. Es soll als Treffpunkt und Bürgerberatungsstelle dienen. Schon jetzt treffen sich hier die Basisgruppen von Demokratie Jetzt und dem Neuen Forum zu getrennten oder auch gemeinsamen Sitzungen.

Zum Beispiel am letzten Montag. Vier Frauen und sieben Männer von Demokratie Jetzt sind pünktlich erschienen. Diszipliniert diskutieren sie die umfangreiche Tagesordnung durch - von den Wahlvorbereitungen bis zur möglichen Aufstellung von Bürocontainern auf dem begehrten historischen Grund des Bezirkes Mitte. „Wir hätten uns nie beteiligen sollen an den Wahlen, das bindet alle Kräfte“, stöhnt einer der Aktivisten am Ende.

Ute Scheub

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