Chile erinnert sich

■ Eine Kommission arbeitet die Jahre unter Pinochet auf Interview mit einem Friedhofsarbeiter über das Jahr '73

In Chile macht man sich jetzt gefaßt auf die schockierenden Ergebnisse der von Präsident Aylwin eingesetzten Kommission zur Untersuchung der Verbrechen während der Diktatur. Wie Argentinien 1983 macht jetzt auch Chile den quälenden Prozeß durch, die Geschichte des Terrors aufzuarbeiten.

Ende April setzte Patricio Aylwin die „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ ein; ihre Aufgabe ist es, die Fakten über die Verletzung der Menschenrechte in 16 Jahren Militärregierung zusammenzutragen. Alle Mitglieder der Kommission sind Rechtsanwälte; ihre Aufgabe wird darin bestehen, die Fälle von schätzungsweise 2.000 politischen Morden zwischen 1973 und 1978 aufzuklären, von etwa 500 politischen Morden zwischen 1978 und 1990, und von insgesamt 700 Verschwundenen. Der aus detaillierten Ergebnissen und Empfehlungen bestehende Endbericht soll die Arbeit der Kommission abschließen. Die Prozesse und die Bestrafung der Schuldigen werden dann Aufgabe der Gerichte sein.

Das Ausmaß des Schreckens ist aber schon durch vor kurzem in Santiago veröffentlichte Dokumente deutlich geworden. Dazu gehören das dreibändige Werk Chile, La Memoria Prohibida 1973-1983 (mehrere Autoren, Verlag Pehuen, Santiago 1989), das Buch La Historia Oculta del Regimen Militar, Chile 1973-1988 (Verlag Antartica, Santiago 1989) und Los Zarpazos del Puma (Editiones Chile America Cesoc, Santiago 1989), geschrieben von der chilenischen Journalistin Patricia Verdugo. Deren Recherchen haben immerhin ergeben, daß viele Offiziere sich geweigert hatten, Gefangene ohne Prozeß erschießen zu lassen. (Die Aussagen von Brigadegeneral Joaquin Lagos Osoria, hinter dessen Rücken General Sergio Arellano Stark Gefangene exekutieren ließ, sind in Kapitel 7 von Los Zarpazos del Puma enthalten und in 'Index‘ Nr. 7 ins Englische übersetzt und abgedruckt.)

Auch die chilenischen Sender tragen zur Aufarbeitung der Jahre unter Pinochet bei. Am 26.März sendete 'Radio Nuevo Mundo‘ folgendes Interview mit einem Friedhofsarbeiter, den das Militär nach dem Coup vom 11.September 1973 für sich arbeiten ließ. Das Interview führte der Journalist Mario Aguilera.

Mario Aguilera: Langsam verlieren die Menschen ihre Angst und fangen an, über die Ereignisse zu sprechen, deren Zeugen sie waren, von denen sie wußten oder an denen sie sogar teilnahmen. Unsere Aufgabe ist es, wie wir immer wieder gesagt haben, sicherzustellen, daß die Menschen die Wahrheit erfahren.

Heute morgen sind wir in der Lage, ein wichtiges Zeugnis zu senden, und zwar über Dinge, die unmittelbar nach dem Coup d'Etat vom 11.September 1973 stattfanden. Der Beifahrer von einem der vier Lastwagen, die aus den verschiedenen Stadtteilen Santiagos Leichen zum Hauptfriedhof transportierten, berichtet über diese Tage aus unserer Geschichte, die wir nicht vergessen dürfen.

Beifahrer: Wir parkten außeralb des Stadions. Drinnen gab ein General Anweisungen, die Leichen der Ermordeten einzusammeln.

Wie haben Sie mit dem Stadion die Kommunikation hergestellt?

Ein Hauptmann mit einem Walkie Talkie war bei uns. So erhielten wir schließlich den Befehl, die Leichen abzufahren.

Wieviele Tote paßten in den Lastwagen?

Es kam darauf an: 10, 15, 20, 35,... bis zu 40.

Es fanden drei bis vier Fahrten pro Nacht statt. Sie arbeiteten nach der Ausgangssperre. Nach dem Beladen der Lastwagen fuhr man die Leichen zum Hauptfriedhof, einem Ort, über den es viele Gerüchte gegeben hat...

Wir fuhren als erstes zum Hof 29, dann wurden einige im Krematorium verbrannt.

Wann arbeitete das Krematorium?

Mitten in der Nacht.

Und die so begraben wurden, - wie ging das vonstatten?

Sie kamen in große Kisten, die von der Holzhandlung Ambos Mundos geliefert wurden.

Wieviele paßten in jede Kiste?

Drei, fünf, manchmal zehn Körper.

Die Holzhandlung Ambos Mundos existiert bis heute. Viele Leichen trafen ohne Totenschein ein.

Manche hatten einen Totenschein, aber die meisten nicht. Die waren direkt hierher gekommen.

Wie haben Sie die Leichen in die Lastwagen gehievt?

Sie wurden auf große Metalltragen gehoben.

Wieviele Lastwagen gab es?

Es gab vier Lastwagen.

Einer der LKWs war dunkelrot, zwei andere, die vor allem auf dem Friedhof selbst benutzt wurden, waren grau. Zu jedem Lastwagen gehörten ein Fahrer, zwei Beifahrer und ein Soldat. Hier die Namen von einigen, die an diesen makabren Transporten beteiligt waren: einer hieß Hernan Tapia, die Namen zweier Beifahrer waren Juan Quesada und Esteban Valenzuela, ein anderer hieß Serrano und einen weiteren nannte man Tun-Tun. Auch der Aufseher der ganzen Operation hieß Serrano.

Die Arbeit war für keinen einfach. Nachdem sie vom 11. bis zum 26.September Tag und Nacht gearbeitet hatten, litten viele, wie auch unser Zeuge hier, an nervösen Beschwerden.

Ich war krank und mit den Nerven am Ende. Schließlich mußte ich mir freigeben lassen.

Wie reagierten Ihre Kollegen auf all das?

Naja, sie sagten, wir müssen die Befehle ausführen.

Jeder von ihnen hatte seit einiger Zeit schon auf dem Friedhof gearbeitet und bestimmt viele Tote gesehen. Dennoch war dieser Leichentransport besonders schrecklich.

Ich habe 18 Jahre hier gearbeitet, und in dieser ganzen Zeit habe ich nicht so viele Tote gesehen. Ich möchte vergessen, was geschehen ist und was ich 1973 gesehen habe. Es war... 1973 war es... Ich werde nie vergessen, was ich gesehen habe: Frauen, Kinder, Großväter...

Heute, nach 17 Jahren, fangen die Menschen zu sprechen an, sie erzählen, was sie gesehen haben. Damals herrschte Angst: Angst um das eigene Leben, um den Job, um die Familie. Heute jedoch, mit der Rückkehr demokratischer Verhältnisse, können sie hoffen, daß ihr Sprechen den Menschen hilft, die Wahrheit zu begreifen.

Ich hatte Angst... um meinen Job. Ich habe Familie, und sie sind von mir abhängig, deshalb hatte ich Angst zu reden. Ich hatte Angst.

Sie haben vorher noch nie darüber gesprochen?

Nie. Mit niemandem. Aber jetzt, nachdem wir wieder Freiheit haben, will ich es gerne tun.