Aus Berlin zurück in die verstrahlte Heimat

■ Ein evangelisches Gemeindezentrum organisierte einen Ferienaufenthalt von 14 Kindern aus der Ukraine

Am liebsten stand Kolja auf dem Balkon und schaute auf die parkenden Autos runter. Die vielen kleinen Trabis faszinierten ihn besonders. Aus ihrer dominierenden Übermacht schloß er, daß es wohl die beste Automarke sein müßte. Deshalb verlieh er ihnen das Prädikat „oschen karascho“, zu deutsch: sehr gut. Gegen Ende seines Ferienaufenthalts in Ost-Berlin registrierte er immer weniger „sehr gute“ Autos. An diese Episode erinnern sich schmunzelnd seine Quartiereltern Ursula und Detlef Lischewski, bei denen er einen Monat lebte.

Angefangen hatte alles mit einem Gottesdienst im evangelischen Gemeindezentrum Berlin-Hohenschönhausen Ende April. Pfarrer Günther Köhler bat seine Zuhörer um Unterkünfte für Ferienkinder aus Weißrußland. Spontan meldeten sich zwei Drittel, vorwiegend jüngere Paare, darunter auch die Lischewskis. Für die beiden war es nichts besonderes, Gäste zu haben. Sie arbeitet als Krankenschwester in einem Pflegeheim im Drei-Schicht-System, er ist zur Zeit beurlaubter Ökonom. Ihre Fünfraumwohnung biete ausreichend Platz, begründeten sie den Entschluß. Auch die Angst vor der bevorstehende Währungsunion und um die eigene Zukunft steckten sie zurück, als sie hörten, daß die Kinder aus dem verstrahlten Gebiet um Tschernobyl kamen. Da sie selbst drei Kinder großziehen, kam es auf eines mehr oder weniger nicht an.

Am 9. Juni fanden sich 14 Kinder aus Choiniki und Slawgorod im Gemeindezentrum ein. Sie alle waren nach dem Tschernobyl -Unglück radioaktiver Strahlung ausgesetzt und leiden nun unter Krankheiten. Pfarrer Köhler und seine Leute hatten inzwischen alles so gut wie möglich vorbereitet: Quartiere und Helferinnen, darunter zwei Freiwillige, und ein eigens eingestellter Jugenddiakon. Spenden unter anderem aus der Gemeinde und von Abgeordneten der Stadtbezirksversammlung Hohenschönhausen deckten die finanziellen Unkosten mehr als ab. Jeden Vormittag frühstückten die Gäste im Gemeindezentrum, da die meisten Quartiereltern tagsüber arbeiteten. Die Betreuer hatten allerlei organisiert: schwimmen, reiten, eine Dampferfahrt, Stadtbesichtigung, Musikveranstaltungen, Tennis und Federballspiel sowie einen Ausflug in ein Rüstzeitheim der evangelischen Kirche. Und natürlich stöberten die Gäste auch in den Kaufhäusern rum. Jeder erhielt ein Taschengeld von 120 Mark. Quarzuhren, Jeansjacken und Kaugummis waren die Renner.

Der 15jährige Kolja interessierte sich besonders für Unterhaltungselektronik und Motorräder. Völlig hingerissen war er von dem neuen Videorekorder der Lischewskis. Das schien für ihn der Ausdruck von Wohlstand zu sein. Er rechnete ihnen vor, wie lange man in seiner Heimat dafür arbeiten muß. Anfangs lief die Verständigung sehr manuell ab, obwohl sich die Gasteltern zur Genüge mit Wörterbüchern eingedeckt hatten. Über Bleistift, Zettel und Wörterbuch spielte sich dann die Verständigung ab. Über Kolja lernten sie, wie die Tschernolbyl-Katastrophe auch Eßgewohnheiten verändert hatte. Seine vehemente Ablehnung der für sie alltäglichen Obst- und Gemüsesorten verschwand erst nach und nach. Zuletzt aß er alles, was den Lischewskis schmeckte. Deren 13jähriger Sohn und Kolja kamen besonders gut aus. Man könne sich eben auch ohne Worte verständigen, meint der Familienvater. Tatsächlich konnte keiner der beiden Jungen die Sprache des andern.

An vielen Abenden verfolgte der Feriengast die Fußballweltmeisterschaft. Gleichgültig registrierte er das Ausscheiden der heimischen Mannschaft. Für ihn war die WM mit der Niederlage der Holländer zu Ende. Die völlig fußballabstinenten Lischewskis guckten ihm zuliebe mit. Ob sich Kolja erholt hatte, vermochten sie nicht zu sagen. Normale Ferien sind es nach ihrer Meinung nicht gewesen, weil die vielen neuen Eindrücke auch erstmal verkraftet werden wollen. Die Währungsunion, die Kolja kurz vor seiner Abreise noch miterlebte, war auch für ihn ein Konsumschock und traf ihn noch viel unvorbereiteter als seine Gastfamilie.

Wenige Tage nach dem 2. Juli trat Kolja mit seiner Gruppe die Rückreise an. Obwohl er sich auf die Fahrt nach Hause freute, fiel ihm der Abschied nicht leicht. Auch den Lischewskis nicht. Sie mußten ihn wieder in einen Alltag zurückschicken, aus dem sie ihn eigentlich drei bis sechs Monate rausholen wollten. Aber sie verstehen sein Heimweh. Und deshalb glauben sie auch nicht, daß es eine Lösung wäre, die Kinder einfach hierzubehalten, hierher zu verfrachten. Das sah auch Pfarrer Köhler so: Es müsse vielmehr international Druck ausgeübt werden, daß die Familien Weißrußlands vom radioaktiv verseuchten Süden in den dünnbesiedelten Norden umziehen können. Im nächsten Jahr will seine Gemeinde wieder Ferienkinder aufnehmen. Für sie war es eine Art Pilotprojekt. Und bei den Lischewskis ist Kolja schon eingeplant. Die fünfjährige Judith räumt dann wieder ihr Zimmer, aber nur, wenn sie in Papas Bett schlafen darf.

Bärbel Petersen