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Aids zögert an der Grenze

■ Mit dem Fall der Mauer ist die Zahl der HIV-Infizierten weniger gestiegen als erwartet / Mehr Aids-Kranke nach der Einheit von „Drogenszene und sexueller Subkultur“ nicht ausgeschlossen

Berlin (taz/adn) - Die Berliner Mauer wirkt nach, denn noch hat die Öffnung des Jahrhundertbauwerks dem Ostteil der Stadt bisher nicht die befürchtete HIV/Aids-Welle beschert. Mit 59 Infizierten und davon sieben an der Immunschwäche Erkrankten kann die Charite nach wie vor günstige statistische Werte ausweisen. West-Berlin hingegen meldete jetzt 1.050 Fälle, wobei hier die Statistiker nur die Erkrankten angeben, nicht die Infizierten. Insgesamt waren im östlichen Deutschland zu Augustbeginn 306 Infektionen bekannt; hier sind mittlerweile 24 Menschen erkrankt und 13 verstorben. Für die HIV-Träger wird eine Dunkelziffer in Höhe des Doppelten bis Dreifachen angesetzt. Wesentlich höher muß der Dunkelwert in West-Berlin liegen; dort raten seit Jahren Selbsthilfegruppen von Aids-Tests ab. Weiterhin werden HIV-Positive gesellschaftlich stigmatisiert. „Wir sind einen völlig anderen Weg gegangen und haben der Früherkennung und -betreuung Priorität eingeräumt“, sagt Jürgen Kölzsch, Chef der HIV-Abteilung der Charite. Dadurch seien die Chancen besser, eine Frühdiagnose zu erstellen und den Ausbruch von Aids hinausschieben, vielleicht sogar zu verhindern.

Auch hätten sich die Ansichten in den Interessengruppen zum Teil gewandelt, berichtet der Charite-Arzt. Zunehmend kommen Westberliner in den Ostteil Berlins zum HIV-Test, da sich die hier gewahrte strikte Anonymität schnell herumgesprochen hat. So wird im Westen allein durch die Kassenabrechnung der behandelnden Ärzte - etwa bei Verabreichung des Aids -Spezialpräparates AZT - zumindest den Krankenkassen bekannt, ob einer ihrer Beitragszahler an der Immunschwäche leidet.

Allerdings, räumt Kölzsch ein, habe es „in der DDR ebenso wie in der BRD“ Aids-Tests ohne Einwilligung der Betroffenen gegeben. Vielerorts sei dies „gängige Praxis gewesen“, etwa vor Operationen, die „aber nicht in Einklang mit den Bestimmungen“ gestanden hätte.

Eine genaue Zukunftsprognose über die Zahl der Aids-Kranken in der DDR traut sich der Experte nicht zu. Einen Anstieg der Zahl der HIV-Infizierten schließt er indes nicht aus. „Was uns bisher vor Schlimmerem bewahrte, war die Mauer, vor allem die intravenöse Drogenszene kann sich jetzt auch im Osten ausbreiten, die Lebensweise der Leute wird eine andere werden, die sexuelle Subkultur holt uns noch ein.“

Gerade in Berlin wird sich die Szene schnell mischen, die Situation ist eine andere als in Frankfurt/Oder oder Suhl. Irgendwann um die Jahreswende wird man aufhören, Ost- und West-Berlin in der Aids-Statistik getrennt zu führen. „Wenn Kreuzberg nach Prenzlauer Berg, Prenzlauer Berg nach Weißensee und die vielleicht nach Reinickendorf wandern, wäre die separate Erfassung unsinnig“, so der Aids -Spezialist. Das gelte natürlich auch für den Brandenburger Raum.

Jedoch ist die heutige Ausgangssituation in der DDR eine günstigere als die im Westen zu Beginn der Achtziger, als die Immunschwäche und ihre Übertragungswege noch weitgehend unbekannt waren. Im Verkehr waltet seitdem mehr Vorsicht. Außerdem habe die Infektionswelle auf ihrem Weg aus den USA über Westeuropa bis in den Osten an Wucht eingebüßt, erklärt Jürgen Kölzsch. Denn die Ansteckungsgefahr steigt mit der Dauer der Infektion, vergrößert sich, wenn Aids nach mehreren Jahren ausbricht. Übertragungen zwischen Menschen von diesseits und jenseits der Mauer müssen in einer Phase geringerer Infektionsgefahr stattgefunden haben, da sich nach Ansicht von Kölzsch die erstaunlich niedrige Zahl HIV -Positiver und Aids-Kranker in der DDR trotz etlicher West -Kontakte kaum anders erklären läßt.

asw

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