Die Nackten und der Klein-Inquisitor

Verden aufgewühlt von Nacktgrafiken / Zeitungsboß als Lokalpossen-Reißer  ■  hierhin bitte

die Wimmelzeichnung

Kunst, Anstoß erregend

Vor 200 Jahren machte sich in Spanien die Inquisition über Go yas „Nackte Maja“ her. Heute sind nackte Körper in der Kunst längst kein Tabu mehr. Sollte man meinen. Nicht so in Bremens für Pferde und Behörden bekannten Nachbarstädtchen Verden. Dort schwang sich jüngst ein lokaler Zeitungsboß zum Klein-Inquisitor auf. Und wandte sich mit einem Aufschrei an seine Leserschaft: „Finden Sie das gut? Skandal im Rathaus oder einfach 'nur‘ Kunst?“.

Der Mann hatte in den heiligen Hallen des Rathauses eine Ausstellung mit zeitgenössischer DDR-Graphik besichtigt und herausgefunden: „Im Verdener Rathaus gibt es nicht nur Verwaltungsakten, sondern auch Akte an den Wänden! “ Da haben wir's.

„Beiderlei Geschlecht unter den Mitarbeitern“ sei „zunächst in ungläubiges Erstaunen“, sodann aber in eine „eigentümliche Mischung aus Wut und Entsetzen“ verfallen, so weiß der Intimus aller AmtschimmelInnen jedenfalls zu berichten. Nicht nur, daß die Behördenfrauen von der Darstellung zweier weiblicher Akte tief betroffen seien, nein! Nun haben auch noch die Männer von der Stadtkämmerei und dem Rechnungsprüfungsamt „bei den Männerakten Einzelheiten ausgemacht, die sie auf die sprichwörtliche Palme bringen.“ Skandal im Rathaus!

Der verantwortungsbewußte Redakteur führte umgehend ein Blitz-Interview mit Verdens

Stadtdirektor Dirk Richter, um den auf die drohende „Vernebelung der Sinne“ seiner Dienstbefohlenen hinzuweisen. Richter aber wollte davon nichts wissen, fragte vielmehr entgeistert: „In welchem Jahr leben wir denn?“

Nun hat ein Redakteur, zumal ein leitender, auch noch andere Möglichkeiten. Der unsere appellierte an Lese-Volkes Stimme, und viele, viele schrieben. Über die Details männlicher Körper wurde weiter nichts vermerkt, Anstoß nahm die Menge an den weiblichen Akten. Nicht weil sie nackt sind, beileibe nicht: sie sind, hieß es „nicht schön“. Ein Akt solle die „Darstellung eines schönen weiblichen Körpers“ sein, dann strahle er Ethik sowie Ästhetik aus und gehöre auch in ein öffentliches Gebäude, so eine Schreiberin. Die dargestellten Damen aber stammten offensichtlich aus einem „öffentlichen Haus“.

Daraus macht DDR-Graphiker Clemens Gröszer auch kein Hehl: „Rückansicht einer Dirne“ hat er eine der Lithographien betitelt, die an ähnliche Milieustudien von Toulouse-Lautrec oder George Grosz erinnert. Von der Härte ihres Jobs gezeichnet, blicken seine „Freudenmädchen“, nicht gerade Pin -up-Girls, aus dem Sozialismus anno 1989 auf das Rathaus -Publikum.

Ein Leserbriefschreiber droht jeder Frau, die sich so zeigt, eine „Klage wegen Beleidigung“ an, ein anderer Experte sieht in den inkriminierten Graphiken das „chaotische sexistische Gekritzel von seelisch schwer kranken Mnenschen“. Hoch die Zeiten, als man das noch ungeniert „entartet“ nennen durfte! Also, in welchem Jahr leben wir jetzt wirklich? Annemarie Struß-v.Poellnit