piwik no script img

„La poetessa di fellatio“

Von Liliane Mika / Christof Zierath  ■  Sie ist gerichtet

ist gerettet

Goethe, Faust

Er zwingt sie zur Fellatio, vergewaltigt sie anal, staffiert sie nach seinen Phantasien aus. Sie empfindet es als ekelhaft, abstoßend, erniedrigend - aber das ändert sich.

„Lulu“ ist „Die Geschichte einer Frau“, ist eine Geschichte von Sex, Gewalt und Hörigkeit, ist die Geschichte einer Selbstaufgabe.

In Spanien ist seit Monaten ein wahres Lulu-Fieber ausgebrochen. Nie war ein erotischer Roman erfolgreicher. Kaum jemand entrüstet sich über die obszöne Sprache, die detailbesessene Schilderung geschlechtlicher Akte. Die Reaktion in Italien ist ähnlich. Hier interessiert die JournalistInnen unterschiedlichster Coleur vor allem, wie eine so hübsche, junge Frau derartige Schweinereien schreiben kann.

Lulu, Tochter aus guter Madrider Familie, wird im Alter von fünfzehn Jahren von Pablo, dem zwölf Jahre älteren Freund ihres Bruders, verführt. Gemeinsam fahren sie durch die nächtliche Stadt - er mit einer Hand am Steuer, sie mit dem Mund an seinem Penis. In derselben Nacht defloriert er sie. Es tut ihr weh, aber ihm gefällt es, und so ist es gut. Wenige Tage später verläßt Pablo Spanien, und sie verliert den Boden unter den Füßen.

Damit ist die Ausgangslage des Romans entwickelt. Die erwachsene Lulu berichtet in Rückblicken über Schlüsselstellen ihres Lebens. Doch die interessante Psychologie kommt viel zu kurz, sie wird von Sexszenen verschüttet.

Pablo kehrt nach fünf Jahren zurück. Lulu inszeniert ein Wiedersehen, gekleidet wie damals - als Schulmädchen: Wie schön Lulu! Du bist gar nicht erwachsen geworden...Das so sorgfältig geplante Treffen verläuft jedoch nicht nach ihren Vorstellungen: Pablo vergewaltigt sie anal. Während sie vor Schmerzen weint, bittet er sie, ihn zu heiraten.

Ihre Ehe ist ein Szenario immer neuer sexueller Spiele. Dabei gehört der sexuelle Kontakt zu Transvestiten genauso zum Repertoire wie Pablos Vorliebe, sie in Babykleidung zu sehen. Doch eines Tages geht der Mann zu weit: Der ungewollte Inzest Lulus mit ihrem Bruder führt zum Bruch. Sie verläßt Pablo.

Immer schon von dominanten Homosexuellen fasziniert, die für sie der Inbegriff perfekter Körper und wahrer Männlichkeit sind, entwickelt sich dieses Faible für Lulu zu einer regelrechten Obsession. Um ihre Phantasien in die Tat umsetzen zu können, verschleudert sie ihr ganzes Geld. Jetzt muß sie sich prostituieren, um ihr Verlangen zu befriedigen. Als bezahlte Akteurin nimmt sie an einer Orgie teil. Erregt und verwirrt von dem sadomasochistischen Schauspiel erkennt sie zu spät ihre eigene Rolle: Ihre Opferung soll die Hauptattraktion des Abends werden. Fast zu Tode gequält, wird sie gerade noch rechtzeitig von Pablo - deus ex machina - gerettet. Reumütig kehrt sie zu ihm zurück - obwohl sie blitzartig erkennt, wer für die Orgie verantwortlich ist.

„Lulu“ ist Almudena Grandes erster Roman. Die dreißigjährige, gutsituierte Madriderin studierte Geschichte und Geographie. Sie ist mit einem Italiener verheiratet und hat einen fünfjährigen Sohn. Daß ihr Buch in Spanien auf eine breite Akzeptanz trifft, schreibt Grandes der Überwindung des Francismo zu. Der Unterdrückung folge die politische Freiheit und die sexuelle Libertinage, verkündet sie in Interviews. Auch sei die Sprache des Romans authentisch und wiedererkennbar: Es ist die Sprache ihres Viertels, die Sprache der Intellektuellen, Künstler, Schwulen, Lesben und Transvestiten.

Angeregt, einen erotischen Roman zu schreiben, wurde sie von Vladimir Nabokov, Henry Miller und Boris Vian, nicht aber von Frauen wie Pauline Reage oder Anais Nin. Überhaupt zweifelt die Autorin an der feministischen Sicht einer disparaten männlichen und weiblichen Sexualität. Vielmehr will sie auf gleiches Empfinden hinweisen und zu existentiellem Erleben verdrängter Passionen auffordern sagt sie. Dazu gehöre, offen über Sexualität zu sprechen und - auch als Frau - Tabus zu brechen.

Sie und ihre Heldin sind geprägt vom befreienden Ende des Franco-Faschismus und der schillernden Metropole Madrid. Beide sind fasziniert von männlicher Homoerotik. Lulu trage eine Reihe autobiografischer Züge, doch die Fama sei Fiktion.

Almudena Grandes ist eine vom Detail besessene Autorin. Ihr Bericht aus der Welt geschwollener Adern und flimmernder Schamhaare liest sich wie ein Operationsprotokoll. Was sie beschreibt, läßt sich nahezu überall finden. Daß Frauen sadomasochistische Phantasien haben können, ist spätestens seit Nancy Friday wirklich nichts neues mehr. Und warum sollte eine Frau keinen Gefallen an männlicher Homoerotik finden?

Aber hinter diesen manisch genau beschriebenen orgiastischen Szenen steckt etwas anderes als: „Frauen, entdeckt eure eigene Sexualität und lernt eure Phantasien beim Namen nennen.“ Denn davon, daß Lulu ihre Sexualität frei und ohne Hemmungen auslebt, kann keine Rede sein. Sie entwickelt sie nicht selbstbestimmt, sondern stets mit einem Blick auf Pablo. Er ist ihr Lehrmeister, sie sein kleines, verborbenes Mädchen, seine Schülerin, die willige Hauptdarstellerin bei der Verwirklichung seiner Phantasien.

Gestattet er ihr, ihre eigenen Vorstellungen real zu erproben, so ist sie ängstlich darauf bedacht, daß ihr Handeln auch sein Wohlgefallen erregt. Die Grenzen ihrer Phantasie werden von ihm bestimmt. Der Hexenmeister erträgt es nicht, wenn ihm die Dinge aus der Hand gleiten.

Pablo bestimmt den Unterschied zwischen tolerabler, frivoler Obszönität und verabscheuungswürdigem Schmutz. Der feine Universitätsdozent hat die eiserne Regel, von allem nur ein bißchen zu kosten. Er hat die kleinbürgerliche Angst vor der Obsession. Lulu akzeptiert ihn als moralische Instanz. Alle Dinge, die seine Zustimmung finden, bereiten ihr keine Scham.

Dies ändert sich schlagartig, als sie sich gegen seinen Willen von ihm trennt. Zum ersten Mal lebt sie wirklich ihre eigenen Phantasien aus. Obwohl sie nun endlich ihre eigenen Grenzen austesten kann, ist sie peinlich darauf bedacht, daß Pablo nichts von ihren Obsessionen erfährt, da sie sich ihrer schämt. Pablos subtile Indoktrination wirkt: Selbst in der sadomasochistischen Schlußszene empfindet Lulu ihre Peinigung als gerechte Strafe für ihr Verhalten. Für Almudena Grandes ist Pablo wie Gott, und sie bedauert, einem solchen Mann selbst nie begegnet zu sein.

Wenn der Roman „Lulu“ eine Parabel auf die sexuelle Befreiung nach Franco sein soll - wie die Autorin immer wieder betont - dann werden allerdings nicht die Frauen befreit. Bei Grandes braucht es den alten Macho, der die Frau in ihre Schranken verweist.

Biographische Erfahrungen, Phantasien und Wünsche literarisch zu verarbeiten, ist Schriftstelleralltag; dies ungebrochen auf die alltägliche Realität der LeserInnen zu übertragen und zu idealisieren, Chauvinismus. Männern wie Pablo zu begegnen, die das Leben von Frauen in allen Bereichen dominieren und reglementieren, ist keine weibliche Wunschvorstellung, wie die Autorin gerne glauben möchte, sondern eine Horrorvision.

Mit der den männlichen Sexus sezierenden Literatur Elfriede Jelineks hat „Lulu“ nichts zu tun, auch nichts mit der groben, aber amüsanten Parodie auf die „Geschichte der O.“ der Italienerin Gaia Servadio, „Storia di R.“ Almudena Grandes beschreibt ein Einzelschicksal, das zwar kurios aber nicht kontrovers ist. Sie stellt den Machtanspruch des Mannes nicht in Frage, sie heroisiert ihn. Mit ihrem Roman ordnet sie sich einer männlichen schriftstellerischen Tradition von erotischer Literatur unter.

„Lulu. Die Geschichte einer Frau“ liegt jetzt in deutscher Sprache vor. Die herrvoragende Übersetzung besorgte Christiane Rasche.

Almudena Grandes: Lulu /Die Geschichte einer Frau, Galgenberg Verlag, geb., 320 S., 39,80 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen