„Die sowjetischen Reformen kommen kaum voran“

■ Aus dem ersten (und letzten) Weltwirtschaftsreport des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) in Ost-Berlin / Die taz dokumentiert Auszüge aus dem Kapitel über die UdSSR: „Die Haupttendenzen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung waren 1989 widersprüchlich“

Analysen des Ostberliner Instituts für Wirtschaft und Politik (IPW) begannen früher immer mit dem Bericht über das „Mutterland des Sozialismus“, die Sowjetunion. Diese Zeiten sind vorbei: Den Anfang seines neuen „Weltwirtschaftsreports 1990“, den das Institut soeben im Verlag „Die Wirtschaft“ veröffentlicht hat, machen diesmal die westeuropäischen Länder. Genutzt hat dies, der veränderte Sprachgebrauch und eine ganz neue Sichtweise der Fakten nichts: Die einstige sozialistische Kaderschule, bislang aus dem Staatshaushalt finanziert, wird zum Jahresende aufgelöst. Der Report ist demnächst im Buchhandel erhältlich und kostet 27,80 DM.

Die Wirtschaftslage in der UdSSR ist Anfang der neunziger Jahre in vielen Bereichen durch eine krisenhafte Situation gekennzeichnet. Trotz der bereits fünf Jahre währenden Bemühungen zur Umgestaltung hat sie sich in den vergangenen Jahren nahezu ständig verschlechtert.

Die Stagnationserscheinungen setzten bereits vor vielen Jahren ein, die wirkliche Entwicklung wurde aber von der offiziellen sowjetischen Statistik verschleiert. Kürzlich vorgenommene Berechnungen ergeben, daß zum Beispiel die Zuwachsraten des produzierten Nationaleinkommens um fast das Doppelte zu hoch ausgewiesen wurden. So stieg das produzierte Nationaleinkommen 1985 nicht um 3,5 Prozent, sondern nur um 1,6 Prozent. Für 1989 wird eine Wachstumsrate von 2,4 Prozent als real angesehen, das ist eine auch weiterhin unter der geplanten liegende Rate. Die mit dem XXVII. Parteitag der KPdSU eingeleitete Politik hatte sich das Ziel gesetzt, das Land zu demokratisieren, den wirtschaftlichen Niedergang umzukehren und das Lebensniveau der Bevölkerung zu heben.

Auf wirtschaftlichem Gebiet wurden seit Beginn der Umgestaltung eine Reihe wichtiger Reformen durchgesetzt (größere Selbständigkeit der Betriebe, Bildung genossenschaftlicher und privater Betriebe, Vereinfachung der Planung, Ausschaltung bürokratischer Zwischenglieder, faktische Liquidierung des Außenhandelsmonopols, Umstellung auf Eigenfinanzierung, Gründung von Joint-ventures, Reduzierung der Zahl der Wirtschaftsministerien, Bankenreform, Förderung der Leichtindustrie, vor allem durch Gründung von Klein- und Mittelbetrieben, Schaffung von Sonderzonen). Diese Maßnahmen sollten die Effizienz der Wirtschaft, aber auch ihre Attraktivität für westliche Investoren erhöhen.

Ungeachtet der positiven Ansätze gelang es jedoch bisher nicht, dadurch ein besseres Funktionieren des Wirtschaftsmechanismus und eine höhere Effektivität der Wirtschaft der UdSSR zu erreichen. Die ökonomischen Schwierigkeiten erwiesen sich als weitaus dramatischer, als zunächst angenommen wurde. So sind die wirtschaftlichen Strukturen veraltet und entsprechen weder nationalen noch internationalen Erfordernissen. Als Hemmnisse erweisen sich auch die Nicht-Konvertierbarkeit der Währung, gewaltige Transport- und Ernteverluste, Schwarzmarkt, Wirtschaftskriminalität und Korruption, mafiaähnliche Erscheinungen und anderes. Schließlich verschärfen Arbeitsniederlegungen in wichtigen Schlüsselbereichen der Wirtschaft, wie in Kohlegruben und bei Eisenbahnen, die schwierige Wirtschaftslage. Mehr als 41 Millionen Sowjetbürger leben in Armut (das heißt unterhalb des offiziell mit 78 Rubeln angegebenen Existenzminimums).

Zerrüttung des

Binnenmarktes

Die Haupttendenzen der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung waren dementsprechend widersprüchlich. Einerseits ist ein geringfügiger Zuwachs bei einigen Kennziffern zu verzeichnen, obwohl vieles davon durch Streiks, ethnische Konflikte, nachlassende Disziplin und uneffektives Wirtschaften verlorenging. Andererseits traten eine weitere Zerrüttung des Binnenmarktes, zunehmende Mangelerscheinungen sowie sinkende Kaufkraft des Rubels zutage. Das Bruttosozialprodukt stieg 1989 um 3 Prozent, das produzierte Nationaleinkommen um 2,4 Prozent (geplant 5,7 Prozent), die Industrieproduktion um 1,7 Prozent (geplant 4,8 Prozent), die Arbeitsproduktivität um 2,3 Prozent (geplant 4,5 Prozent), die Konsumgüterproduktion um 5,9 Prozent, darunter bei Lebensmitteln um 3,2 Prozent und bei Industriewaren um 7,7 Prozent (geplant war eine Gesamtzunahme der Konsumgütererzeugung um 5 Prozent, darunter bei Lebensmitteln um 4 Prozent und bei Industriewaren um 6 Prozent). Die landwirtschaftliche Produktion wuchs um 1 Prozent (geplant 3,2 Prozent).

Das Entwicklungstempo der Industrie hat sich zunehmend verlangsamt. Lag es im Vergleich zu den entsprechenden Zeiträumen des Vorjahres im ersten Halbjahr 1989 noch bei 2,7 Prozent, so sank es im zweiten Halbjahr auf 0,9 Prozent. Diese Entwicklung setzte sich 1990 fort. In den Monaten Januar bis April 1990 war die Industrieproduktion der UdSSR um 0,7 Prozent geringer als vor einem Jahr. In den südlichen Republiken war der Rückgang (nach Angaben für das I. Quartal) noch gravierender: in Georgien 9,5 Prozent, in Armenien 11,7 Prozent, in Aserbaidshan sogar 25 Prozent. Die Ursachen liegen in den Massenstreiks, vor allem in den Südrepubliken, wo viele Fabriken im Januar überhaupt nicht arbeiteten, in der mangelnden Vertragsdisziplin (fehlende Zulieferungen), der schleppenden Inbetriebnahme neuer Kapazitäten und zunehmend erhobenen ökologischen Forderungen.

Negativ wirkte sich vor allem auf den Auslandsabsatz aus, daß die Nutzung neuer Technik nicht den Zielsetzungen entsprach. So wurden weniger Taktstraßen, Industrieroboter sowie NC-Werkzeugmaschinen als im Vorjahr installiert.

In der Landwirtschaft wurde der geplante Produktionszuwachs nicht erbracht. Vergrößert hat sich das Aufkommen an Getreide, Kartoffeln, Sonnenblumen und Zuckerrüben; bei Baumwolle und Gemüse ging es zurück. Zugenommen haben Produktion und Verbrauch tierischer Proukte, zum Beispiel der Pro-Kopf-Verbrauch bei Fleisch mit 67 kg (1988: 65 kg) sowie bei Milch und Milchprodukten mit 359 kg (351). Die Landwirtschaft ist noch auf längere Sicht nicht in der Lage, die Versorgung des Landes mit Nahrungsmitteln zu sichern. Schon bei einer radikalen Minimierung der Transport- und Lagerverluste ließe sich aber ein Großteil der Importe einsparen.

Die gesamten Investitionen erhöhten sich um 1,6 Prozent auf insgesamt 191,6 Milliarden Rubel. Für die technische Neuausstattung und Rekonstruktion des Produktionsapparates wurden 3 Prozent mehr Mittel (50,8 Milliarden Rubel) als 1988 aufgewendet. Belastet wird die wirtschaftliche Entwicklung durch die seit vielen Jahren schleppende Inbetriebnahme der Ausrüstungen. So wurde fast jedes zweite staatliche Investitionsvorhaben 1989 nicht produktionswirksam. Von 193 aus dem Jahr 1988 übernommenen nicht fertiggestellten Objekten wurden 1989 wiederum nur zwei Drittel (133) produktionswirksam, so daß sich der Wert der unfertigen Investitionen Ende 1989 auf 180,9 Milliarden Rubel belief. Besonders negativ ist dies für die importierten Ausrüstungen einzuschätzen. Insgesamt beträgt der Umfang der nicht installierten Importausrüstungen etwa 3 Milliarden Rubel. Bei ungefähr der Hälfte dieser Ausrüstungen (1,5 Milliarden Rubel) sind die Garantiefristen abgelaufen. Vielfach wurden sie jahrelang gelagert, verrosteten und sind nicht mehr einsatzfähig. Der Außenhandelsumsatz nahm 1989 um 4,7 Prozent zu. Die Exporte stiegen um 1,7 Prozent, die Importe um 7,9 Prozent. Es ergab sich ein Defizit von 2 Milliarden Rubel. Die Exporte in westliche Industrieländer beliefen sich auf 26 Milliarden Rubel (+ 23,6 Prozent). Der Exportplan in diese Länder wurde nur zu 91 Prozent erfüllt.

Die Struktur der Ex- und Importe ist volkswirtschaftlich äußerst ungünstig. Durch die ungenügende Konkurrenzfähigkeit der sowjetischen Industrie auf dem Weltmarkt konnten die geplanten Exportaufgaben in die westlichen Industrieländer gerade in den modernen Zweigen nur in geringem Maße erfüllt werden (zu 40,7 und 71,0 Prozent). Ebenso ungünstig ist die Struktur der Importe. Die für die gesamte Volkswirtschaft und insbesondere für die Realisierung der wichtigsten Investitionsvorhaben erforderlichen Importe an modernen Maschinen und Ausrüstungen wurden nicht erhöht. Demgegenüber stieg der Import von Nahrungsmitteln und von Rohstoffen zu deren Herstellung sowie von Konsumgütern. Hierauf entfiel nahezu der gesamte Importzuwachs, das heißt, die Importe wurden vorrangig von den akuten Versorgungsmängeln bestimmt.

Äußerst ungünstige

Struktur des Außenhandels

Daß im Gegensatz zu westlichen Industriestaaten der Außenhandel noch nicht den erforderlichen Beitrag zur Effizienzsteigerung der Volkswirtschaft leistet, zeigt: Die durchgeführten Reformen greifen auch hier noch nicht genügend. Das findet auch in der Entwicklung des ersten Vierteljahres 1990 seine Bestätigung. In diesem Zeitraum gingen die Exporte um 3 Prozent, die Importe um 0,3 Prozent gegenüber der Vergleichszeit 1989 zurück. Besonders stark fiel der Rückgang des Außenhandels mit den RGW-Ländern ins Gewicht: Die Exporte sanken um 9,7 Prozent, die Importe um 11 Prozent.

Das Verhältnis zwischen Löhnen, Einkommen, privatem Verbrauch und Kaufkraftentwicklung hat sich auch 1989 ungünstig entwickelt. Der bereits 1988 ohnehin überproportionale Zuwachs des Lohn- und Gehaltsfonds hat sich 1989 noch einmal um die Hälfte vergrößert. Im I. Quartal 1990 stiegen die Einkommen der Bevölkerung um 13,3 Prozent gegenüber dem entsprechenden Vorjahreszeitraum (für das Gesamtjahr 1990 ist ein Zuwachs von 7,3 Prozent geplant). Damit wurde die Disproportion zwischen Produktion und Geldumlauf weiter verschärft. In zunehmendem Maße zeigen sich auch in der UdSSR Erscheinungen der Arbeitslosigkeit. Offiziell wurde die Zahl der Arbeitslosen mit 2 Millionen beziffert, inoffiziell werden bis zu 8 Millionen genannt.

Neben dem für die gegenwärtige Situation typischen „Knäuel akuter Widersprüche“ gibt es aber auch positive Veränderungen. So erfolgte 1989 erstmals eine drastische Umorientierung von der Schwer- zur Konsumgüterindustrie. Das Ziel ist eine rapide Steigerung der Konsumgüterproduktion, die um mehr als 30 Prozent vergrößert werden soll. Durch Senkung der Verteidigungsausgaben und beginnende Konversion der Rüstungsindustrie (mehr als 100 Rüstungsbetriebe sind 1990 umzuprofilieren) sollen weitere Möglichkeiten für die Konsumgüterproduktion erschlossen werden. Ähnlich radikale Schritte sind in der Nahrungsgüterwirtschaft geplant, da die Rückstände in diesem Bereich schon längst nicht mehr durch Importe ausgeglichen werden können. Erhöht werden sollen die Investitionen auch für den sozialen Bereich. Diesen Maßnahmen sollen weitere folgen, um die Wirtschaftsreform durchzusetzen, darunter die Zulassung neuer Eigentumsformen. So wurden bis Ende 1989 unter anderem 1.332 Industriebetriebe, 731 Baubetriebe, 4.911 Kollektivwirtschaften und Sowchosen, 988 Einzelhandelsbetriebe, 1.043 Gaststätten auf Pacht überführt. Mit dem neuen Bodengesetz können Bodenflächen zur lebenslangen und vererbbaren Nutzung übergeben werden.

Die Ergebnisse des ersten Vierteljahres 1990 lassen bestimmte Verbesserungen in einigen Bereichen, aber keine grundlegende Veränderung erkennen. Der erhoffte Umschwung im Produktionsrhythmus der Betriebe trat nicht ein. Die führenden Kräfte des Landes ringen noch immer um ein in sich geschlossenes Reformkonzept. Hier liegt nach Meinung sowjetischer Ökonomen eine Hauptursache dafür, daß die Reformen bisher kaum vorankommen und keine Früchte tragen.