: Auf die Vergessenen warten nur noch Parkbänke
■ Ein Besuch in der Ostberliner Vollzugsanstalt Rummelsburg / Unter den Insassen macht sich Frust und Resignation breit / Obwohl viele zu Unrecht oder zu lange sitzen, kommt die Staatsanwaltschaft nicht in die Gänge / Sie prüft und prüft ...
Treptow. Sie haben ihre Schuhsohlen verbrannt, mit Wasser angerührt und sich die so entstandene dunkle Tinte in die Haut ritzen lassen: Adler am Bizeps, barbusige Schönheiten auf dem Unterarm, Totenköpfe auf der Brust. Das haben sie mit vielen ihrer Kollegen aus Tegel gemein; neuerdings auch die preisgünstigen westlichen Sexheftchen, die man in der Gefängniskantine erwerben kann. Wie der Westen geht, wissen die Knastbrüder aus Rummelsburg sonst nur durch das Fernsehen. Denn die Mauern und der Stacheldraht, die sie vor der Nase haben, sind am 9. November nicht zusammengestürzt. Auf eine klare Regelung, was nun eigentlich mit ihnen passieren soll, warten die Knackis Ost bis heute.
Insgesamt 145 Insassen, darunter 25 Ausländer und neun Westdeutsche, sitzen noch in der schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg erbauten Haftanstalt Rummelsburg ein. Ihre Vergehen reichen laut Urteilsfindung vom versuchten Raubüberfall bis hin zum Mord. Viele bestreiten, was ihnen zur Last gelegt worden ist, einige präsentieren sich als Stasi-Opfer. Daß ihre Strafen im Vergleich zur westdeutschen Gerichtsbarkeit oft höher liegen, ist erwiesen. Nicht wenige bekamen für sogenannte „Zusatzdelikte“ wie Widerstand gegen die Staatsgewalt bei der Festnahme oder Beamtenbeleidigung vom Richter noch mal eben zwei Jahre zusätzlich zur eigentlichen Strafe aufgebrummt.
Licht in die Rummelsburger Grauzone von Recht und Unrecht zu bringen fällt schwer. Denn auch bei der sogenannten gewöhnlichen Kriminalität hatte die Staatssicherheit oft ihre Finger im Spiel. Haftentlassene wurden meist von der Stasi unter Druck gesetzt und zur Mitarbeit erpreßt. Wer sich weigerte, lief Gefahr, in eine Falle zu tappen und bald wieder hinter Gittern zu sitzen. So berichtet ein 30jähriger Palästinenser beispielsweise, daß er „nur hier sitzt, weil ich die Mitarbeit in einem Geheimdienst abgelehnt habe“. Die Stasi hätte ihm, nachdem er sich während seines Landwirtschaftsstudiums beharrlich geweigert hatte, im Agentenmilieu mitzumischen, mit einer fingierten Anklage wegen schweren Raubes ausgetrickst. „Ich habe kein Verbrechen begangen!“ beteuert der Libanese, der - obwohl er jeden DDR-Anwalt seinerzeit schriftlich um Hilfe gebeten hatte - bis heute ohne Rechtsbeistand, ja sogar ohne einen einzigen Kontakt nach draußen in Rummelsburg einsitzen muß. Bis zum letzten Sommer noch hätten ihn die Stasi-Mitarbeiter regelmäßig „besucht“. Das heißt: geschlagen, unter Druck gesetzt, verhört. Als die Mauer fiel, hat er Hoffnung geschöpft, auf eine Neuauflage seines Verfahrens gewartet. Sein Vorgang liegt nun bei der Generalstaatsanwaltschaft. Dort wird angeblich geprüft, geprüft, geprüft ... „Die haben mich hier vergessen“, glaubt er mittlerweile und meint, halb ironisch, halb resigniert: „Wenn ich hier mal rauskommen sollte, werde ich wirklich Terrorist.“
Ein 45jähriger Westberliner, der seine Zelle mit einem 20 Jahre jüngeren Schwaben teilt, hat vor zwei Jahren offenbar dem falschen aufs Maul gehauen. Aus einer Kneipenschlägerei, die normalerweise zu einer Anklage wegen Körperverletzung geführt hätte, wurde „versuchter Mord“. Denn der Kontrahent des Häftlings „war dummerweise Stasi-Mitarbeiter“. Ergebnis: Das Verfahren wurde von der Stasi abgewickelt, das Urteil lag bei acht Jahren Haft. Seit zehn Monaten wartet er nun darauf, daß sein Fall endlich noch einmal überprüft wird nichts geschah bisher. Und vor dem 3. Oktober, wenn die Ostberliner Haftanstalten nebst Insassen vom Westberliner Justizsenat übernommen werden, wird noch immer nichts geschehen.
Sicher, in den letzten Monaten sei alles etwas angenehmer geworden. Die Hunde seien weg, Fernsehen auf dem Zimmer sei erlaubt, die „Wachteln“ nicht mehr so hundsgemein wie früher. Auch der morgendliche Appell findet nicht mehr statt. Ab und zu läuft gar ein Volleyballturnier, ein neuer Gefangenenrat schreibt Briefe an die Volkskammer (siehe Dokumentation unten). „Es ist trotzdem so schwer, hier keine Aggressionen zu kriegen, seinen Frust unter Kontrolle zu halten“, meint einer, der wegen Diebstahl sitzt. Mit Honecker und Mielke zusammen in einer Zelle, „da tät‘ ich das die nächsten Monate schon nach aushalten, da hätt‘ ich ja zwei Sparringpartner“. Aber so? Den 9. November am Bildschirm erlebt, die Währungsunion mit Coupongeld des Knasts durchgestanden - „wir wollen hier endlich raus!“
Einer darf das nun: Am kommenden Freitag öffnet sich nach über fünf Jahren Haft endlich das Haupttor. Vor einem Jahr noch hätte er wenigstens eine Wohnung bekommen, wenn es auch mit der realsozialistischen Resozialisierung nicht weit her war. „Wat soll ick'n dann machen?“ fragt er und kratzt sich nervös an seiner Tätowierung am Unterarm. Der „Fallada -Effekt“, so fürchtet er sich in Anspielung auf den Roman Wer einmal aus dem Blechnapf frißt, wurde mit der Mauer jedenfalls nicht abgeschafft. Vor kurzem sei Innenminister Diestel zu Besuch gewesen, den hätte er auch gefragt, wo er denn „danach“ bleiben solle. „Suchen Sie sich eine Parkbank!“ hätte der geantwortet. „Darauf“, meint der Knacki, „wird's denn wohl auch rauslaufen!“
Claus Christian Malzahn
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen