Der Tanz im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit

 ■ Zur Arbeit der „Dokumentationsstelle für Tanz und Bewegung“

in Bremen

Von Katrin Bettina Müller

Tanz im Fernsehen: vielleicht mal ein verstaubtes Dornröschen-Ballett am Sonntagnachmittag, ab und zu ein prominenter amerikanischer Choreograph um Mitternacht. Doch trotz dieser spärlichen Auswahl ist das Fernsehen bisher für viele Tänzer in Deutschland oft das einzige Informationsmedium über historische Choreographien oder die Arbeit ausländischer Choreographen. Vor zwei Jahren wurde in Bremen der Verein „Dokumentationsstelle für Tanz und Bewegung“ gegründet, um dieser Geschichtslosigkeit des Tanzes und seiner mangelhaften medialen Vermittlung abzuhelfen. Der Verein will ein tanzhistorisches Archiv aufbauen; eine angeschlossene Video-Produktion soll die Dokumentation des zeitgenössischen Tanzes in Deutschland übernehmen.

Für die Gründung der Dokumentationsstelle engagierten sich die Tanzfilmerin Heide-Marie Härtel und die Tanzhistorikerin Susanne Schlicher. Heide-Marie Härtel begann vor zwanzig Jahren zu filmen, im Tanztheater Bremen von Hans Kresnik, in dessen Ensemble sie selbst sechs Jahre getanzt hatte. Susanne Schlicher schrieb ein Buch über das deutsche Tanztheater und organisierte zwei Jahre lang in der Tanzwerkstatt Bremen Vorträge, Seminare und Workshops für die Bremer Tanzszene. Mit zwei hauptamtlichen Stellen, die beim Bremer Senat für Bildung, Wissenschaft und Kultur beantragt wurden, wollen die beiden nun die Dokumentationsstelle ausbauen.

Die meisten filmischen Dokumente, auch über die Geschichte des deutschen Tanzes, lagern bis jetzt in der Lincoln Library in New York, die über nahezu 10.000 Tanzfilme und -Videos verfügt. In Europa bemühen sich das Tanzmuseum Stockholm, die Tanzfilmsammlung des Centre Pompidou und ein Zentrum in Amsterdam um die Dokumentation des Tanzes. Kurt Peters Tanzbibliothek in Köln, bis vor kurzem eine private Sammlung, war lange das einzige deutsche Archiv zur Tanzgeschichte. Zu diesen Einrichtungen hat die Dokumentationsstelle erste Kontakte aufgenommen, um eine Übernahme oder Austausch von Materialien zu vereinbaren.

Tanzfilme finden sich aber auch oft verstreut bei privaten Sammlern, denen die Archivierung - und die Verantwortung oft zu viel wird. Und die in Theaterarchiven und Sendeanstalten - unzugänglich für interessierte Historiker und Tänzer - lagernden Bänder sind bei einem Intendantenwechsel oft vom Wegwurf bedroht. Diesen Bestand zu sammeln, technisch zu sichern und abspielbereit zu konservieren, wird zunächst Härtels und Schlichers Hauptaufgabe sei. Bis sie die kulturpolitische und finanzielle Untersützung erhalten, um eigene Institutsräume zu beziehen, dient ihnen die Medienstelle des Fachbereichs „Visuelle Kommunikation“ der Universität Bremen als provisorische Abspielstätte. Langfristig hoffen sie auf die Unterstützung durch eine kulturelle Stiftung.

Instrumentelles Zwischenprodukt

Tanz ist vergänglich. So entzieht er sich im Grunde der authentischen Fixierung und Archivierung. Die Vermittlung von Tanzgeschichte ist immer auf die Übersetzung in ein anderes Medium angewiesen - seien es Notationen, Tanzschriften, Bilder, Beschreibungen, Filme oder Videos. Nicht nur die subjektive Interpretation des Tanzerlebnisses durch den Aufzeichnenden macht jede Übersetzung zur ungenügenden Erinnerung; vor allem leidet jede sprachliche oder bildliche Erzählung über den Tanz an dem Mangel, wenig von der Präsenz der Körper und der durch den Bewegungsrhythmus veränderten Zeiterfahrung mitteilen zu können.

Für Heide-Marie Härtel und Susanne Schicher, die sich auf die Video-Dokumentation spezialisiert haben, hat die Tanzkonserve ihren Stellenwert als instrumentelles Zwischenprodukt. Doch innerhalb dieser Beschränkung wollen sie den Standard der Video-Dokumentation heben. Ihre eigenen Produktionen mit Reinhild Hoffmann, Gerhard Bohner, Hans Kresnik, der Laokoon Dance Group und anderen enstanden stets in intensiver Zusammenarbeit mit den Choreographen.

Das ideale Klima der Zusammenarbeit sei erreicht, so Heide -Marie Härtel, wenn die Tänzer den Menschen mit der Video -Kamera nicht mehr als Eindringling empfinden. Der Filmer soll keine standardisierten Bilder produzieren, die den tänzerischen Körper als beliebigen Gegenstand wegästhetisieren, sondern eine dem Gegenstand jeweils adäquate Bildsprache entwickeln. Dabei darf sich die Technik des Films ruhig an der Ästhetik des Tanzes reiben, solange sie ihre Eingriffe bewußt vornimmt und kenntlich macht.

Die Vergänglichkeit

des Tanzes

In Frankreich, dem europäischen Mekka des zeitgenössischen Tanzes, wurde 1988 ein in seiner kommerziellen Ausrichtung nicht unumstrittener Grand Prix-Wettbewerb des Video Danse eingerichtet. Auf einem Kolloquium in Arles diskutierten Psychologen, Mediziner, Philosophen, Historiker, Choreographen und Tänzer über die Problematik des Erinnerns und Vergessens von Tanz. Philsophen entdecken in der Vergänglichkeit des Tanzes und seiner immer wieder neuen Hervorbringung durch die Interpretation des Tänzers sein eigentliches Wesen. Doch während den Theoretikern die filmische Tanzkonserve meist als verdächtig schnell konsumierbares und beliebig reproduzierbares Produkt erscheint, das die Magie des Tanzes Lügen straft, wissen die Praktiker um die unvermeidbare Auseinandersetzung mit dem Medium Film und Video.

Beides, eine abrufbare Tanzgeschichte wie auch eine populäre Vermittlung des Tanzes durch die Medien, ist zur Voraussetzung für die Anerkennung des Tanzes als eigenständige Kunstform geworden. Die Verschiebungen der Ausdrucksmittel zwischen Theater und Tanz, Sprache und Bewegung in den letzten zwei Jahrzehnten haben zwar die Gattungsgrenzen aufgeweicht und viele Experimente hervorgebracht. Aber diese drohen folgenlos zu verschwinden.

Über die kulturgeschichtliche Notwendigkeit hinaus gehört die Arbeit mit dem Video längst zum Alltag von Tänzern und Choreographen. Aufzeichnungen dienen nicht nur bei der Probenarbeit als Instrument der Kontrolle, sondern werden als Mittel der Selbstdarstelluntg der Companies, im Austausch von Informationen über Tanzgruppen, im Management, bei Festivalorganisationen und Stellenbesetzungen eingesetzt.

Die Eigenständigkeit

der Kunstform Tanz

Deshalb sieht die Dokumentationsstelle eine wichtige Aufgabe in der Reflektion der Eigenschaften der filmischen Übersetzung. An das Tanzvideo werden oft unvereinbare Ansprüche gestellt: Schon während der Video-Aufnahme muß entschieden sein, ob eine Bewegungssequenz zerlegt und analysiert wird, oder ob sie in ihrer Ganzheit, ästhetischen Wirkung und zeitlichen Flüchtigkeit übermittelt wird. Härtel und Schicher planen neben der Aufbereitung von Aufführungen und choreographischen Arbeitsprozessen auch Medienpakete für Tanzpädagogen und Porträts über die älteste Generation von Tänzern, die noch die Verbindung zur klassischen Moderne verkörpern.

Im Gegensatz zur Tanzfilmproduktion des Fernsehens, die sich auf das Ballett konzentiert und sich beim modernen Tanz nur den etablierten Stars widmet, wollen die beiden Tanzfilmerinnen die Arbeit von jungen Chroreographen und Compagnien verfolgen. Für ihre eigene Arbeit bevorzugen sie das Spektrum des Tanztheaters; doch daneben möchten sie andere Autoren und Filmer, die mit der alternativen und freien Tanzszene zusammenarbeiten, beraten.

Doch bevor der Traum von der Verfügbarkeit der Tanzbilder verwirklicht werden kann, müssen Musterverträge entwickelt werden, die den Choreographen, Compagnien und Filmern Autorenrechte sichern und die Nutzungsrechte in Zusammenarbeit mit den Sendeanstalten klären.

Manche Choreographen fürchten den Mißbrauch der Aufzeichnung, weil ihre Choreographie das Kapital ihrer Arbeit darstellt. Ein Tanzarchiv, das in der Wahrnehmung seiner Aufgabe nicht von der Tanzszene anerkannt wird, kann nicht funktionieren. Das Institut müßte zu einem leicht zugänglichen Ort werden, der die Kommunikation innerhalb der Tanzszene fördert und von ihrer Vernetzung profitiert.

Die Motothek

ein Archiv für jegliches

Bewegungsgut

Heide-Marie Härtel und Susanne Schlicher sehen ihre Arbeit als Teil einer umfassenden anthropologischen Bewegungsforschung. Nicht nur die künstlerisch artikulierte Körpersprache, sondern auch die Veränderung von alltäglicher Bewegung in der hochtechnisierten Gesellschaft wäre zukünftiger Gegenstand ihrer Sammlung und daran angeschlossener Forschungsvorhaben. In der Angst der Kulturanthropologen vor der Einengung des Bewegungsraumes jedes Menschen und der Verkümmerung seiner Sinne und Organe werden an ihr Institut Erwartungen als Retter eines bedrohten Körperwissens geknüpft, die weit über eine Tanzgeschichte hinausgehen. Der Bremer Professor für Sensomotorik Dr.Ungerer, der ihr Projekt unterstützt, entwarf in einem Brief das Szenario einer „Motothek“, in der jegliches Bewegungsgut aus unterschiedlichen Kulturkreisen gespeichert werden könnte. Am Bild des Bewegungsexperten, der selbst unbeweglich vor dem Bildschirm sitzt und Bewegungen analysiert, der sich nicht mehr selbst durch den Raum begibt, sondern über technische Kommunikationsmittel die Welt zu sich holt, bricht noch einmal das Paradoxon des Tanzes im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit auf: die Technik, die als Erinnerungshilfe und Ersatz für das Gedächtnis des Körpers bemüht wird, ist zugleich die, die seine Freiheiten einschränkt und seine Fähigkeiten verkommen läßt.

Dokumentationsstelle für Tanz und Bewegung e.V. Universität Bremen - FB 10, Medienzentrale, Postfach 330440, 28 Bremen 33