Die andere Hälfte

■ Der erste schöne Film am Lido: „La Discrete“

Antoine will sich von seiner Freundin trennen. Aber sie hat schon einen anderen. Jetzt will er sich rächen. Nicht an ihr, sondern an den Frauen überhaupt. Also rät ihm Jean, sein väterlicher Freund, er solle irgendeine x-beliebige Frau in sich verliebt machen und sie dann verlassen. Außerdem solle er Tagebuch führen und einen Roman daraus machen.

Das Spiel gelingt. Am Ende ist Catherine in Antoine verliebt, und er gibt sein Manuskript ab. Nur die Rache mißlingt. Denn Antoine verliebt sich auch in Catherine. Dabei hatte er sich an die Regeln gehalten und seine Rolle gut gespielt.

Antoine ist Fabrice Luchini - in Rohmers Vollmondnächte spielte er Ottave, den intellektuellen Freund von Pascal Ogier. Luchini hat vor allem eine Leidenschaft: das Sprechen. Man müsse die Erotik der Sprache wiederentdecken, sagt Luchini, denn „Frauen urteilen mit den Ohren“. Also kommt Antoine ins Cafe, setzt sich zu Catherine und fängt an zu reden. Erzählt Anekdoten, zitiert Literatur, klatscht und plaudert und quasselt, die Lippen, die Zunge, sein ganzes Gesicht - nie hält er ruhig. Nur seine Augen bleiben still. Er sieht Catherine an, und sie hört ihm zu. Dann fragt sie, ob er mit ihr ins Schwimmbad geht. Das verschlägt ihm die Sprache. Antoine denkt, er beherrsche die Kunst der Verführung. Er hält sich für den Regisseur des von ihm in Szene gesetzten Stücks. Nur eines entzieht sich ihm: Catherine. Längst hat sie ihn in der Hand. Das macht ihn so komisch - und so liebenswert. Christian Vincent, der Regisseur, ist 34 Jahre alt. Er sieht 10 Jahre jünger aus, La Discrete ist sein erster Film. Ja, sagt er, er habe viele Romane aus dem 18. Jahrhundert gelesen, er liebe Choderlos de Laclos‘ Liaisons Dangereux. Auch ein Intellektueller, wie Antoine. Aber das ist es nicht, was diesen französischen Film so wertvoll macht, wertvoll wie Rohmer, wie Resnais. Es ist sein Blick, die Neugier. Am Anfang ist Catherine (Judith Henry) bloß irgendein Mädchen. Und allmählich nimmt man die Zeichnung ihrer Wangen wahr, den Nacken, den Hals und wie ihr Haar das Gesicht umrahmt. Nach und nach entdeckt man auch Antoines Verlegenheit, wie er sie berühren möchte, aber die Geste im letzten Moment zurücknimmt.

Kino, sagt Vincent, basiert auf einer sehr einfachen Sache: der Entdeckung. „Machen wir nicht Filme, um zu sehen, was wir nicht hätten sehen können, wenn wir sie nicht gemacht hätten?“ Und zitiert ein französisches Sprichwort: „Wenn wir jemanden anschauen, sehen wir immer nur die Hälfte“. Ich bin sicher, daß diese sehr einfache Sache - die Ahnung von der anderen Hälfte - zum Schwersten gehört.

Christiane Peitz