Giftgas: Einsatzpläne aus der Schublade

■ Behörden durften „endlich offen“ sagen, was alle schon wissen: „Wir wären alle überfordert“

Mit den Worten: „Ich bin froh, endlich offen reden zu können“ eröffnete Innensenator Peter Sakuth gestern seine Pressekonferenz zu den Bremer Vorbereitungen der Chemiewaffen-Transporte, die in den sieben Nächten zwischen dem 12. und 19. September Bremen passieren werden. Jeweils zwischen 0 und 5 Uhr morgens wird der Konvoi aus zwei Zügen mit den Chemiewaffen und einem dahinter fahrenden militärischen Begleitzug mit 250 Mann Besatzung in einem Zeitraum von 25 Minuten die Bahnstrecke aus Mahndorf oder Hemelingen über den Hauptbahnhof und die Neustadt in Richtung Delmenhorst passieren. Die genaue Uhrzeit soll nicht bekanntgegeben werden, um „niemanden einzuladen, sich direkt mit dem Zug auseinanderzusetzen“.

Während der Durchfahrt der Züge durch Bremen werden alle ebenerdigen Bahnübergänge geschlossen und von Polizisten bewacht und der Rettungsdienst der Feuerwehr wird in „erhöhte Einsatzbereitschaft“ versetzt. In den Krankenhäusern wird kein zu

sätzliches Personal zur Verfügung stehen. „Wir rechnen bei einem möglichen Unfall mit einer Vorwarnzeit von einer halben bis einer Stunde, bis uns kontaminierte Personen von dem militärischen Begleitpersonal der Züge übergeben werden“, begründete dies Dr. Matthias Gruhl vom Gesundheitssenator. Lediglich die existierenden Noteinsatzpläne aller Bremer Krankenhäuser seien zur Vorbereitung „aus der Schublade geholt worden“.

Die Bremer Polizei wird in den sieben Nächten mit fünf Hundertschaften entlang der Bahnlinie stehen - drei eigenen und zwei ausgeliehenen des Bundesgrenzschutzes. Während der Durchfahrt wird auch der Hauptbahnhof in Teilen abgesperrt. Mit Verkehrsbehinderungen muß in den Nächten gerechnet werden.

Auch in Bremerhaven, das nur vier bis fünf Kilometer Luftlinie vom Midgard-Hafen in Nordenham entfernt ist, wird für die Tage des Chemiewaffen-Umschlags (am 20. September soll das letzte der beiden US-Schiffe den Hafen wieder verlassen haben) ein eige

ner Führungsstab gebildet. Der ist allerdings ausschließlich auf Informationen von der anderen Weserseite angewiesen. Eigene Meßstationen wird es in Bremerhaven nicht geben, da die Weser von der Bremer Wasserschutzpolizei „wasserseitig überwacht“ werde, wie Bürgermeister Karl Willms gestern erklärte.

Eingeladen hatte Innensenator Peter Sakuth zu seiner Pressekonferenz auch den Bremer Chemie-Professor Dieter Wöhrle, der zusammen mit einer Gruppe „kritischer Wissenschaftler“ ein Memorandum zu den Gefahren des Chemiewaffen-Abtransports veröffentlicht hatte. Wöhrle wiederholte seine Kritik an dem „zu schnellen und zu frühen“ Termin des Abtransports. Schließlich sei mit der Vernichtung der C-Waffen auf dem US-amerikanischen Johnston-Atoll aus technischen Gründen sowieso nicht vor 1994 zu rechnen.

Diese Angabe bestätigte auch Oberstleutnant Günther Kreibohm, der im Bundesverteidigungsministerium seit dreieinhalb Jahren für den C-Waffen

Abtransport zuständig ist. Er wies alle Kritik an der Geheimnis-Politik der Bundesregierung und am Zeitpunkt des Abtransports zurück. Die angewandte „Sicherheitsphilosophie“ habe alle Risiken optimal minimiert. Deshalb seien auch keine Selbstschutzmaßnahmen der Bevölkerung in der Nähe der Bahnlinien erforderlich.

Dem allerdings widersprach der Chemiker Wöhrle ganz entschieden. Unter Zustimmung des Bremer Innensenators wiederholte er die im Memorandum der kri

tischen Naturwissenschaftler gegebenen Tips: Schließen der Schlafzimmerfenster, Vorbereiten eines gesicherten Raums für den Fall eines Alarms (vgl. taz vom 30.8.90).

Gegen einen schweren Unfall beim Chemiewaffen-Abtransport nützen allerdings weder diese Selbstschutzregeln noch alle Vorbereitungen des Militärs und der Bremer Behörden. „Bei massiver Kontamination wären wir natürlich überfordert“, gestand denn auch Dr. Matthias Gruhl vom Gesundheitsressort offen ein.

Ase