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Gefangene im Niemandsland

Immer noch sitzen Zehntausende, meist asiatische Flüchtlinge im jordanisch-irakischen Grenzgebiet fest/ Ihre Flucht begann in Kuwait und endet in desolaten Lagern in der Wüste/ Die Evakuierung in die Heimatländer verläuft nur schleppend  ■ Aus Ruweished Nina Corsten

Das im Nordosten Jordaniens gelegene Wüstengebiet zwischen der Kleinstadt Ruweished und der 70 Kilometer weiter östlich gelegenen irakischen Grenze, wird von den Jordaniern schon lange „Niemandsland“ genannt. Es galt als menschenleeres Transitgebiet, da es hinter Ruweished, wo auch die jordanischen Grenzposten stationiert sind, keine Städte und Dörfer mehr gibt. Mehr denn je spricht man nun vom „Niemandsland“, obwohl seit der irakischen Besetzung Kuwaits die Tausenden Flüchtlinge, die Irak durchquerten und hier endeten, das Gebiet dichter besiedeln als so manche große Stadt.

Drei große Flüchtlingslager mit fünfzig- bis achtzigtausend Menschen sind mittlerweile hier entstanden: „Sha'alan Eins“, „Sha'alan Zwei“, und dazwischen das gerade eine Woche alte „Mercy-Camp“ („Lager des Mitleids“). Niemand weiß, wie lange es diese Lager noch geben wird, wie viele man noch wird errichten müssen — und wie viele Menschen hier eigentlich leben: Denn jeden Tag bringt man Tausende von Flüchtlingen in Bussen und LKWs Richtung Westen aus diesem Gebiet heraus, um sie landeinwärts in anderen Lagern unterzubringen. Von dort aus sollen sie dann per Schiff oder Flugzeug in ihre Heimatländer zurückzugebracht werden. Doch täglich kommen Tausende aus der anderen Richtung hinzu — erleichtert, die irakische Grenze überquert zu haben und nicht wissend, daß ihr Leiden noch längst kein Ende hat. Wieviele Leute zur Zeit auf der irakischen Seite warten, ist nicht genau bekannt. Ein jordanischer Grenzbeamter sagte in der 'Jordan Times‘ vom Sonntag, daß dort allein 225.000 Ägypter auf ihre Evakuierung warten. Zahlreiche Hilfsorganisationen, wie das Internationale Rote Kreuz, der Arabische Rote Halbmond, Medecins sans Frontieres, das Middle East Council of Churches und politische Organisationen wie die Moslembrüder sind mittlerweile im „Niemandsland“ tätig geworden. Zusammen mit den vollkommenen überforderten jordanischen Behörden führen sie hier einen bislang wenig aussichtsreichen Kampf gegen Hunger, Krankheiten und Wassermangel — und um die Erfüllung eines makabren statistischen „Plansolls“: mehr Leute nach Westen aus dem Gebiet herauszubringen, als von Osten nachkommen. Die Menschen, die hier „strandeten“, kommen aus Bangladesh, Sri Lanka, Indien, Thailand, Pakistan und von den Philippinen. Sie haben bis zum irakischen Einmarsch in Kuweit gearbeitet, weil es in ihren Heimatländern nicht genügend Verdienstmöglichkeiten gab. Ihre Regierungen sind mit einer schnellen Evakuierung vor allem finanziell überfordert. Es sind also gerade die „Gastarbeiter“ aus den armen Ländern, die am längsten in diesen Lagern festsitzen werden.

„Sha'alan Eins“ entstand nicht als geplante Durchgangsstation für die Flüchtlinge, sondern als Sammelpunkt jener, die die irakische Grenze überquert hatten, denen aber die Weiterreise durch Jordanien nicht gestattet wurde, weil alle Transitwege bereits verstopft waren. Die Leute blieben im „Niemandsland“, längs der Straße, auf ihren Koffern sitzen, ohne Essen, Wasser, Hilfe, mitten in der Wüste. Doch trotz der jetztigen primitiven Versorgung mit dem Nötigsten; immer noch stehen hier Tausende von Menschen an der Straße, die Köpfe gegen Hitze und vorbeiziehende Sandstürme vermummt, einige mit Kindern auf den Armen, und neben sich das, was ihnen nach der Flucht aus Kuwait noch geblieben ist: Koffer und in Tücher eingewickelte Habe. Die Leute stehen Schlange. Die Menschenschlangen enden vorne an der Straße, vor LKWs mit offenen Ladeflächen.

Alle Bengalen, erklärte mir am Sonntag ein Arzt im Sanitätszelt des Arabischen Roten Halbmonds, würden in ein anderes Lager gebracht werden. Vermutlich in das 15 Kilometer weiter westlich gelegene „Mercy-Camp“, das seit einigen Tagen vom Middle East Council of Churches errichtet wird, und in dem nur bengalische Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Am Eingang vorm Mercy-Camp hatte man mir die Zahl von 3.000 bereits untergebrachten Bengalen genannt, tags darauf waren es laut 'Jordan Times‘ schon zehntausend. Die bengalischen Flüchtlinge, die an diesem Tag vor „Sha'alan Eins“ Schlange stehen, wissen nicht, wo sie hingebracht werden. Sie haben aufgehört, Fragen zu stellen.

Entflechtung der multinationalen Lagerbevölkerung soll offenbar Spannungen zwischen den Flüchtlingsgruppen vermeiden. Man stellt sich hier offenbar darauf ein, daß zumindest ein Teil der Flüchtlinge noch einige Zeit bleiben wird.

Spannungen gebe es keine, antwortet mir ein junger Mann aus Sri Lanka auf meine Frage. Dann fragt er besorgt nach dem Bürgerkrieg in Sri Lanka — er habe seit zwei Wochen keine Nachrichten mehr gehört. Wir gehen derweil an einem Zelt vorbei, in dem ein Transistor-Radio läuft. Warum er nicht in diesem Zelt Nachrichten hören könne, frage ich ihn. Seine Antwort: „In dem Zelt wohnen Inder.“

Das Zeltlager von „Sha'alan Eins“ ist von der Straße aus kaum zu sehen. Hinter den wartenden Menschen befindet sich ein Wall aus Sand und Müll, den man übersteigen muß, um zu den Zelten zu gelangen. Zwischen den Müllbergen hocken vor allem Männer, die müde und resigniert in die Ferne starren oder vor sich hindösen. Gleich hinter dem Wall haben das jordanische Gesundheitsministerium, der Arabische Rote Halbmond und das Rote Kreuz ihre olivgrünen Sanitäterzelte errichtet. Vor den Eingängen wieder lange Schlangen von Wartenden. „Allein zu uns und zum Roten Kreuz kommen täglich 1.200 bis 1.500 Patienten, wir haben hier zur Zeit sieben Ärzte und noch einige im Zelt vom Roten Kreuz. Wir haben seit Tagen nicht geschlafen.“ Einer der Ärzte hat ganz routiniert angefangen, zu erzählen. Was sie am dringendsten brauchen, frage ich ihn. „Antibiotika, Cortison-Präparate, Mittel gegen Durchfall, Trockenmilch und Babynahrung.“ „Bis zu siebzig Leute kommen täglich, weil sie von Skorpionen gebissen wurden“, erzählt ein anderer Arzt, während er über eine aus Pappkartons improvisierte Theke einzelne Tabletten an wartende Patienten ausgibt. „Heute waren es zum Glück erst fünfzehn.“ Die meisten Patienten kommen aber wegen anderer Leiden, vor allem Atemwegserkrankungen, Asthma und Bronchitis, weil der von den Sandstürmen aufgewirbelte Staub schwere Reizungen der Atemwege hervorruft. Vor dem Zelt zieht gerade ein solcher Sturm vorbei: eine hohe schlanke Säule aus spiralförmig rotierendem Sand. Dicht am Boden kommt sie mit großer Geschwindigkeit näher und schließlich verschwindet alles für einen Moment in gelbem Sandnebel. Man muß die Augen schließen und die Luft anhalten, auch im Zelt. Sekunden später ist die Luft wieder klar.

Plötzlich kommt eine kleine Gruppe von Leuten eilig herein und drängelt sich an den wartenden Patienten vorbei. In den Händen halten sie aufgerissene Packungen mit getrockneten Feigen. Es gibt Verständigungsprobleme zwischen ihnen, die offenbar Inder sind, und den arabisch sprechenden Ärzten. Die Inder deuten aufgeregt auf die Feigen. Schließlich verstehen die Ärzte: Die Feigen sind schlecht, weiße Maden ringeln sich aus dem Fruchtfleisch. Die Leute sind verzweifelt. Sie sind durch den Wassermangel und den Hunger schon geschwächt und haben Angst vor einer Lebensmittelvergiftung. Wo sie die Feigen her hätten, fragen die Ärzte. Die Inder zeigen auf ein großes, weiter hinten liegendes Zelt. Dort seien Lebensmittel verteilt worden. Die Feigen sollten ihre Abendmahlzeit sein. Morgens werden immer Brot, Tomaten und Joghurt verteilt. Mehr Lebensmittel sind nicht verfügbar. Die Ärzte werden resolut: Hier sei keine Polizei-Station. Sie sollten zu den jordanischen Soldaten gehen, die das Lager bewachen. Die Inder gehen.

Hinter den Sanitäterzelten wurden Hunderte von kleinen braunen Zelten aufgebaut, aber immer noch nicht genug, um allen Leuten Schutz vor Sonne und Sand zu bieten. Dieses Lager ist das größte von den dreien, mit einer Einwohnerzahl, die zwischen zwanzig- und fünfundvierzigtausend schwankt. Am Rand stehen nach wie vor die improvisierten Zelte, die die Flüchtlinge aus Tischtüchern, Bettlaken, Saris und anderen Kleidungsstücken zusammengenäht und auf Stützen aus mitgebrachten Koffern errichtet haben. Über den Eingängen große handgeschriebene Aufschriften wie: „Indians arrived on 2.9.90, Nr. 134“. Erste Versuche der Flüchtlinge, sich in dieser desolaten Lage zurecht zufinden, eine vorläufige Ordnung in das lebensbedrohliche Chaos zu bringen.

„Ich bin Palästinenser“, erklärt der Fahrer, der mich hergebracht hat, einigen Flüchtlingen, „ich weiß, wie das ist. Manche von uns haben vierzig Jahre so gelebt wie ihr jetzt.“ Er sagt es ohne jede Schadenfreude. „Weißt du, ich bin jetzt auch bald vierzig Tage hier“, antwortet ihm einer der Flüchtlinge in gebrochenem Englisch, „und hier ist ein Tag so lang wie ein Jahr.“

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