: Eintrittskarte für Moskau nach Europa?
■ Gorbatschows Rechnung wird nicht aufgehen
Was hat die Sowjetunion zum spektakulären Rückzug von ihren ursprünglichen Verhandlungspositionen bei den 4+2-Verhandlungen veranlaßt? Das Interview Juri Derjabins, Abteilungsleiter für die KSZE im sowjetischen Außenministerium, mit der neuesten Moskauer 'Neuen Zeit‘ erlaubt uns einen Blick in Gorbatschows Gedankenlaboratorium. Eckstein der sowjetischen Überlegungen im Bezug auf Europa bleibt der Helsinki-Prozeß und die besondere Rolle, die das vereinte Deutschland bei der Integration der Sowjetunion in ein künftiges KSZE- Europa spielen könnte. Derjabins Rentabilitätsrechnung ist rundherum positiv: Für ihn ist sicher, daß die nächste KSZE-Konferenz einschneidende Abrüstungsmaßnahmen auch im konventionellen Bereich bringen wird, die die Sowjetunion ökonomisch entlasten werden. Er sieht voraus, daß die Westmächte, voran die USA, ihre bislang zögernde Haltung zu einem „kooperativen“ Sicherheitssystem in Europa aufgeben werden. Auf dem Weg zum Aufbau neuer gemeinsamer Institutionen, die schrittweise die Paktsysteme ersetzen, sieht er regelmäßige Gipfeltreffen, politische Beratungen auf Botschafter-Ebene und die Einrichtung eines KSZE-Sekretariats.
Wie aber soll der Übergang von diesen zu nichts verpflichtenden Konsultationsgremien zu verbindlichen Überprüfungs- und Kontrollorganen erfolgen, wie sie beispielsweise ein Memorandum des tschechoslowakischen Außenministers vom Juni dieses Jahres vorsah? Derjabin schweigt darüber, doch es ist klar, daß hier der Regierung des vereinten Deutschland eine Vorreiterrolle zugedacht ist. Mag sein, daß Genscher solchen Hoffnungen Nahrung gegeben hat. Doch man muß nur einen Blick auf die Formel des 4+2-Vertrages werfen, nach der „die Schaffung geeigneter institutioneller Vorkehrungen im Rahmen der KSZE positiv in Betracht gezogen wird“, um zu begreifen, wie ernst es den Westmächten und der BRD mit der Auflösung ihres Militärblocks ist.
Oft ist von westlicher Seite die Zugehörigkeit der Sowjetunion zu Europa beschworen worden. In der Praxis läuft alles auf ihren Ausschluß hinaus. Den bislang ins Auge gefaßten westlichen Hilfsmaßnahmen fehlt der großzügige Zuschnitt ebenso wie ein Zeitplan, der dem rasch voranschreitenden Zerfall der sowjetischen Ökonomie angemessen wäre. Unter diesen Voraussetzungen wirkt die Hoffnung von sowjetischen „Westlern“ wie Derjabin auf die „zivilisierenden“ Wirkungen des KSZE-Prozesses in Richtung Marktwirtschaft und Rechtsstaat reichlich grundlos.
Der sowjetischen Politik ist nach dem Kaukasus-Treffen oft vorgeworfen worden, sie habe alle Prinzipien über Bord geworfen und nur noch das Maximum an DM abgreifen wollen (siehe auch nebenstehenden Artikel). Tatsächlich aber versucht die sowjetische Diplomatie, ähnlich wie bei dem Komplex der Abrüstung, das vereinte Deutschland in eine Vermittlerrolle zu manövrieren. Mit Hilfe des Generalvertrages und eines Netzes künftiger ökonomischer, politischer und kultureller Kontakte soll eine sowjetisch-deutsche Sonderbeziehung aufgebaut werden — nicht mit dem Ziel, Deutschland aus der westlichen Integration herauszubrechen, sondern, im Gegenteil, um mit Hilfe Deutschlands in diese Integration einzusteigen. Eine Rapallo- Politik unter gänzlich geänderten Vorzeichen also, die aber an die Vorstellungen anknüpfen würde, die in der Sowjetunion und zuvor in Rußland mit der Rolle Deutschlands als „Modernisierer“ verbunden wurden. Leider wird der Test unterbleiben, ob das geeinte Deutschland mit einer solchen Rolle überfordert wäre. Denn es spricht nichts dafür, daß irgendeine deutsche Regierung sich der Herausforderung, Rußland und seinen künftigen Konföderierten den Weg nach Europa zu bahnen, überhaupt stellen wird. Christian Semler
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