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Die Stunde Null

■ Die Moskauer Verträge müssen noch verarbeitet werden KOMMENTARE

Es ist müßig, darüber zu streiten, ob nun der 9.November, an dem die Mauer geöffnet wurde, der 12./13. September, also die Tage der Unterzeichnung der Moskauer 2+4-Abmachungen und des deutsch-sowjetischen Grundlagenvertrages oder der 3. Oktober, der Tag der formellen Vereinigung, die Stunde Null in Deutschland markiert. Tatsache ist jedenfalls, daß seit gestern die Träume, Hoffnungen und auch Befürchtungen vieler verbrieft, in Verträge gegossen und der Tagespolitik entzogen sind. Die Nachkriegszeit ist beendet, Deutschland ist souverän. Die Grenzen sind festgelegt. Die Rechte der Alliierten werden erlöschen. Die deutsche Armee wird wesentlich verkleinert und unfähig zum Angriffskrieg. Das Ende der Bundesrepublik und der DDR ist gekommen.

Wie schon während des Zweiten Weltkrieges hat die Sowjetunion auch jetzt die größten Opfer bringen müssen. Ihre politische Führung hat angesichts der Krisensituation im Lande den deutschen Forderungen nachgegeben und nicht einmal die Kraft gehabt, nach dem Zerfall des eigenen Blocks die Auflösung auch der Nato zum Preis der deutschen Einheit zu machen. Ihr bleibt zwar die vage, nur durch Versprechungen gestützte Hoffnung, ein vereintes Deutschland werde die noch heute zur Sowjetunion gehörenden Staaten und Völker an Europa und an die westeuropäische Wirtschaft binden helfen. Doch diese hochgespannte sowjetische Hoffnung kann sich nicht aus der Beschwörung des Geistes von Rapallo speisen, wie Schewardnadse durchklingen ließ. Sie wird sich, wenn überhaupt, lediglich in den Eckdaten der Wirtschaftsreform erfüllen, zu den Bedingungen der internationalen Kapitalverwertung. Auf die Stunde der Politik folgt die der Ökonomie.

Angesichts der ungeheuren Tragweite der Entscheidungen der letzten Tage, ist es schon erstaunlich, wie gelassen die Deutschen reagieren.

Obwohl manche Streitpunkte innerhalb beider deutschen Gesellschaften — Abrüstung, Oder- Neiße-Grenze — durch die historische Entwicklung entschärft wurden, verfällt ausgerechnet die Linke und mit ihr große Teile der SPD in DDR- bzw BRD-Nostalgie, anstatt die neuen Chancen zu ergreifen. Dabei ist der Gedanke, die Stunde Null im neuen Deutschland als Fundament neuer Politikmöglichkeiten zu nutzen, eigentlich ganz naheliegend. Erich Rathfelder

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