: „Nationalismus transformieren“
■ Ein Gespräch mit dem tschechoslowakischen Minister Jaroslaw Sabata — Mitgründer und ehemaliger Sprecher der Charta 77 INTERVIEW
taz: Die „Citizens Assembly“ wird — zwei Wochen nach der deutschen Vereinigung — ihre Arbeit in Prag aufnehmen. Im Gegensatz zu vielen Politikern haben Sie stets einen sehr engen Zusammenhang zwischen der „deutschen Frage“ und einem zukünftigen europäischen Einigungsprozeß gesehen. Ist die Koinzidenz der Daten also doch kein Zufall?
Jaroslaw Sabata: Eine Koinzidenz gibt es sicher. Wir hätten kaum eine Bürgerversammlung nach Prag einberufen können, wenn es nicht vor einem Jahr in Deutschland zum Umbruch gekommen und die Mauer gefallen wäre. Ohne den 9.November bei euch hätte es die Demonstration des 17.November bei uns nicht gegeben. Die demokratische Bewegung in der DDR hat eine neue Phase des europäischen Demokratisierungsprozesses eingeleitet. Der „genetische“ Zusammenhang unserer Revolution mit eurer „Wende“ war eng. Die „Citizens Assembly“ basiert gerade auf solchen konkreten Verbindungen.
Warum hat die Charta 77 die Lösung der „deutschen Frage“ als so zentral für eine künftige europäische Friedensordnung angesehen?
Wir wollten eine radikale Position einnehmen, von der aus eine neue Strategie der Entspannung ins Leben gerufen werden konnte. Alle von uns aufgeworfenen Fragen hatten einen gemeinsamen Schwerpunkt: Deutschland. Uns schien, daß alle Kräfte, die die Entspannung nur halbherzig vorangetrieben hatten, ebenfalls einen gemeinsamen Nenner hatten: den Abstand zur Überwindung der deutschen Teilung. Eine demokratische Radikalisierung der Entspannungspolitik, die mit der Blockauflösung wirklich ernst machen wollte, mußte zu dem Ergebnis kommen, daß es ein einiges Europa ohne ein einiges Deutschland nicht geben würde — und umgekehrt. Ursprünglich waren solche Überlegungen ein Terrain der Konservativen, aber schließlich wurden sie zum Gemeingut. Die Konservativen schwankten in vielen Fragen — der Blockauflösung, den künftigen Grenzen, auch der Oder-Neiße- Grenze.
Auch in der Frage des Verhältnisses von Entspannung und Demokratisierung!
Auch und gerade dort. Radikalisierung des Helsinki-Prozesses bedeutete gerade, diese Verbindung zu entwickeln, die gesellschaftlichen Initiativen, die auf Demokratie drängten, zu unterstützen — in ganz Europa.
Besteht jetzt die Gefahr, daß mit der deutschen Vereinigung der Helsinki-Prozeß erledigt ist? Strebt nicht jedes der jetzt demokratischen Länder Osteuropas allein ans „rettende Ufer“? Und ist das nationale Interesse nicht die alles beherrschende Kategorie?
So etwas liegt in der Luft. Es besteht die Tendenz, sich der nationalen Identität zu vergewissern, in der Frage der Selbstbestimmung und der Souveränität „bis zum Ende“ zu gehen. Diese Wünsche und Sehnsüchte wurden in unserer Weltregion nie erfüllt. In meinem Land kommen die Slowaken erst jetzt zu ihrer eigenen nationalen Identität. All dies läßt den Helsinki-Prozeß etwas in den Hintergrund treten. Deswegen wird aber unsere Anstrengung, ein friedliches und demokratisch geeintes Europa zu schaffen, nicht unrealistisch. Wir müssen eben kämpfen — gegen alle nationalen oder regionalen Absolutismen. Denn es geht nicht nur um die Rechte der lang unterdrückten Nationen, sondern auch und gerade um die Selbstbehauptung der civil society (der bürgerlichen Gesellschaft) in Europa.
Hängt der heutige Nationalismus nicht vor allem mit dem Bestreben zusammen, bei der „Rückkehr nach Europa“ ökonomische Sondervorteile zu erlangen?
Das ist nichts Neues, obwohl es immer falsch war, den Nationalismus auf ökonomische Interessen zu reduzieren. Wir müssen davon ausgehen, daß der Nationalismus existiert, dann aber versuchen, ihn schrittweise zu transformieren.
Machen die „ungleichmäßigen“ Entwicklungen in Europa einen Dialog, wie er auf der Prager Bürgerversammlung geführt werden soll, nicht illusorisch?
Auf keinen Fall. Bei den Völkern des ehemaligen realsozialistischen Machtbereichs besteht ein starkes Bedürfnis, sich auf produktive Auseinandersetzungen mit dem „Westen“ einzulassen. Wir wollen, daß unsere Länder in den rechtlichen und politischen „Raum“ Europas eingegliedert werden — das ist das treibende Motiv.
Während im Westen Bürgerbewegungen momentan ein kärgliches Dasein fristen, sind sie im „Osten“ an der Macht. Sie selbst sind Minister. Wie lebt es sich in dieser Doppelrolle — halb Bürgerbewegter, halb Staatsmann?
Wir bleiben in der Bürgerbewegung. Jiri Dienstbier hat gesagt, die civil society sei jetzt an der Macht — ein paradoxer Satz, der aber mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Natürlich bestehen Gegensätze und Spannungen zwischen der Regierung und ihren Zwängen einerseits, den Forderungen der Gesellschaft andererseits. Aber im ganzen treibt die Präsenz der Bürgerbewegungen im Staat den history-forming-process voran.
Das finde ich zu glatt. Als Mitglied einer Bürgerinitiative gegen Ausländerfeindlichkeit in der CSFR kann jemand offensichtlich klarer Position beziehen denn als Mitglied der Regierung.
Die Position unserer Regierung gegenüber jeder Form des Rassismus ist ganz eindeutig. Eine andere Frage ist allerdings, was gegenwärtig politisch machbar, das heißt auch verantwortbar ist. Die polnisch- tschechoslowakische Grenze ist heute viel undurchlässiger als die zwischen der CSFR und der Bundesrepublik. Wir tragen hier am Erbe der Jahre 80/81, als unsere Regierung den Solidarność-Bazillus abwehren wollte. Wenn wir jetzt jede Einschränkung des Reiseverkehrs von Polen zu uns aufheben würden, hätten wir in ein paar Wochen eine Situation, die uns zwänge, zum alten Zustand zurückzukehren. Aber unser Ziel steht fest. Auf dem Weg dorthin werden wir ab 1.November den kleinen Grenzverkehr Polen-CSFR freigeben. Wir können nicht alles auf einmal machen und dadurch die ökonomische Lage destabilisieren. Anderenfalls hätten wir zwar vollständig offene Grenzen, aber gleichzeitig das Chaos. Schon die Öffnung Richtung Österreich und Deutschland hat uns sehr viel gekostet. Die Besucher kommen mit einer harten Währung, und ihr Kaufverhalten ist entsprechend. Der Markt wird leergefegt. Die psychologischen Rückwirkungen bei uns sind leicht vorstellbar.
Kant hat in einer von Ihnen oft zitierten Schrift von der Möglichkeit eines europäischen Friedensbundes gesprochen. Dessen Verwirklichung hat er allerdings unserer Vernunft anheimgegeben...
Das mußte er als Aufklärer. Ich lese Kant so, daß er zwar von Europa sprach, aber die Welt meinte. Der Gedanke, wenn vielleicht auch nicht der Begriff des Weltbürgertums geht auf ihn zurück. Es ging nicht um eine geopolitisch begrenzte Vereinigung. Man kann die ganze Geschichte seit der Französischen Revolution als einen Prozeß interpretieren, innerhalb dessen die Voraussetzungen einer solchen Vereinigung geschaffen wurden — der europäischen, aber auch der im Weltmaßstab. Am Ende unseres Jahrhunderts sind die Bedingungen reif für die Integration. Darüber herrscht in Osteuropa breite Übereinstimmung. Auch kein Linker bei uns — Sie wissen, ich gehöre zu dieser Spezies — würde sich gegen europäische Institutionen aussprechen. Die Vision eines europäischen Bundes der Völker hat noch nie so konkrete Gestalt angenommen, war noch nie in einem historisch so kurzen Zeitraum verwirklichbar. Aber wir müssen diese Einigung als Vehikel nutzen, um die UNO zu einer effektiven Einrichtung zu machen — wie anders könnten wir die globalen Probleme lösen?
In Europa, scheint es, werden die Bedingungen für dauerhaften Frieden immer günstiger, während sie sich weltweit verschlechtern.
Das scheint nur so. Wenn die Integration Europas vorangetrieben wird, werden sich mehr Möglichkeiten finden, die Ursachen der Aggressionen in der „südlichen“ Halbkugel zu beseitigen — mittels Transfers von Kapital und Ressourcen als Voraussetzungen für eine Demokratisierung der Weltgemeinschaft. Wie sollen diese Leistungen aufgebracht werden, wenn nicht durch ein vereintes Europa?
Die nach Prag einberufene Bürgerversammlung ist also nicht nur eine europäische Veranstaltung, sondern hat auch diesen Aspekt der Weltgesellschaft?
Für mich vor allem.
Interview: Christian Semler
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