Sex, Lügen, Senta Berger

■ Marquis de Sade in der Mangel einer deutsch-amerikanischen Produktion

Im endlosen Meer der menschlichen Illusion nahm das Kino von Anfang an einen besonderen Platz ein. Das Schicksal des Kinos ist die Lüge etc., etc. — So oder ähnlich beginnt mancher intelligente Artikel zum Thema Film. Was besonders an dieser visionären Anfangswendung und damit direkt aus der Seele des anspruchsvollen Kritikers abzulesen ist, ist nichts anderes als dessen Wunsch, seine tiefsten libidinösen Phantasien nur durch das Kino und nichts anderes erfüllt zu sehen.

Auch ich gehöre zu jener Sekte der Ketzer, die am Anfang nicht das ehrliche Wort anbeteten, sondern das Bild. Vorzugsweise laufende Bilder. Das Wort hat es nur bis zur Aufklärung, zur »Traumvernichtungsmaschine« geschafft, die Bilder aber konnten immer gnadenlos lügen. Wozu hätte man sie sonst erfunden?

Kein Wunder also, daß die wichtigsten Filme der Kinogeschichte auch die größten Lügenfilme waren; oder war es wirklich so wie in Vom Winde vereht, in The wild ones, in Das goldene Zeitalter oder Lemmy Caution in Alphaville 60?

Keine Frage, es folgt kein Diskurs über das Subversive im Film oder über die Kraft der Bilderphantasie, statt dessen soll ein klasse neuer Lügenfilm vorgestellt werden, der nach zwanzig Jahren jetzt als besonderer Jahrgang in den Kinos ausgeschenkt wird: Das ausschweifende Leben des Marquis de Sade von Cecyl Raker Endfield, zärtlich und knapp auf dem Set auch Cy gerufen, zum Beispiel von Senta Berger.

Natürlich weiß wieder keiner, wer Cecyl Raker Endfield war. Cy Endfield hat sich um jeden Typ Leinwandhelden gekümmert. Angefangen mit einem Western- und einem Gangsterfilm im gleichen Jahr (1950), nach zwei Jahren Bedenkzeit die Pflichtübung Tarzan, der Verteidiger des Dschungels, um schließlich das Feld der Kinofreude mit Autojagden, Familiendramen und Robinson-Crusoe-Phantasien abzudecken, nicht ohne noch einmal mit zwei Filmen in den Sechzigern auf Tarzans Afrika zurückzukommen. Damit war Cy wieder am Anfang, und als Kintoppprofi genau der richtige für eine Marquis-de-Sade-Verfilmung. Daß dabei nicht das wirkliche Leben des Marquis abgelichtet werden sollte, war beschlossene Sache.

Wer könnte auch an den echten Marquis de Sade denken, wenn er John Huston als greisen Abbé oder als Wahrsagerin verkleidet in einem klapprigen Zigeunerwägelchen entdeckt. Das ausschweifende Leben des Marquis de Sade ist nichts anderes als die ausschweifende Kollision des kinderschändenden Huston, des Busenwunders Senta B., der Kosmetikfachfrau Lilli Palmer und des blauäugigen Wunderknäbleins Keir Dullea (Hauptspacer in Kubricks 2001). Und weil in diesem Film nur die Uri Gellers der Optik das Sagen haben, ist der ganze Streifen trendy (1969) gewürzt mit Oswald Kolle gerechter LSD-Optik für die erotischen Szenen und aufgefädelt an einer populär psychoanalytischen Behandlung, die nur dazu dient, John Huston im Stall zu zeigen, wie er in Anwesenheit von Damen seinem Neffen, dem kleinen Marquis, das entscheidende Kindheitstrauma auf den nackten Arsch peitscht.

Auf Kreuze geschissen wird nicht. Statt dessen aber wird zur großen Freude des Publikums ein Bündel Trauben stellvertretend für Lilli Palmer in Großaufnahme zerquetscht, steht sie doch ständig klavierlehrerinnenschlau zwischen der Liebe von Senta und Keir. Aber wie es auch für den Zuschauer ein wundervoll erlogenes Bildermärchen ist, sind die Sequenzen auf der Leinwand nur der wählerischen Erinnerung des Marquis entsprungen und erstehen kurzlebig auf den brüchigen Theaterbrettern des Familienschlosses, unter dem ständigen Hohngelächter von John Huston wohlgemerkt.

Immer wieder zerplatzt die Illusion seiner Erinnerung, immer wieder muß der Soundtrack des Lebens neu eingespielt werden, und immer wieder gehen wir gern ins Kino. Piter

Das ausschweifende Leben des Marquis de Sade ab heute im Xenon um 22 Uhr.