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Nicht das Gelbe vom Ei

■ Die Diskussion um eine neue Wirtschaftspolitik in der UdSSR KOMMENTARE

Immerhin haben endlich selbst die Spitzen der Partei und des Staates eingesehen, was die (intellektuelle) Basis der Perestroika in den großen Städten des Landes schon seit Jahren wußte. Verzögerungen für die grundlegende Reform sind jetzt noch sinnloser geworden, als sie es schon früher waren. Versuchte sich die Nomenklatura der Hauptstadt noch vor nicht allzu langer Zeit mit allen Mitteln gegen ihre eigene Entmachtung zu wehren, waren manche ihrer Kollegen in den Republiken klüger und schlossen sich den Unabhängigkeitsbewegungen an. Vom neuen Standpunkt aus war es dann um so leichter, alle eigene Schuld an der Misere der Moskauer Zentrale anzulasten. So hat der alte konservative und zentralistische Apparat in doppelter Weise an Macht verloren, dümpelt und schlingert nur noch vor sich hin, ohne schon beseitigt zu sein. Andererseits aber haben die Reformer bisher auch nur Stückwerk abgeliefert. Die Reformvorschläge, die jetzt auf dem Tisch liegen, sind, gelinde gesagt, auch nicht das Gelbe vom Ei.

Sowohl das Programm Ministerpräsident Ryschkows oder das der russischen Regierung, das in 500 Tagen das Land in die Marktwirtschaft führen soll, oder der nach dem Willen Gorbatschows beide verbindende Kompromiß strotzen nur so vor Widersprüchen. Das ist ihnen immerhin gemeinsam. Es werden in allen Entwürfen Versprechungen gemacht, die sich als unseriös und demagogisch entpuppen müssen. Denn kein Programm zeichnet auch nur die Konturen für die pragmatische Umsetzung einer für die Bevölkerung durchschaubaren konkreten Politik auf. Einerseits sollen die Staatsausgaben gekürzt, die Inflation gebremst, Teile der Industrie und der Landwirtschaft privatisiert und gleichzeitig die ständig wachsenden Arbeitslosenheere sozial abgesichert werden. Andererseits soll nach dem Willen der nicht gerade erleuchteten Mehrheit der Abgeordneten des Obersten Sowjet — unter Einschluß des Radikalreformers Sobtschak — an der Union festgehalten werden, obwohl es keine Regularien mehr gibt, ein einheitliches Reformmodell für die gesamte Sowjetunion zu finden.

Selbst der Austausch von Personen an der Spitze der Regierung, so positiv er sein könnte, wenn damit eine tatsächliche politische Veränderung verbunden wäre, bietet auf dem Hintergrund des jetzt sichtbaren Kuddelmuddels nur eine schwache Perspektive. Hinzu kommt, daß die Bevölkerung längst ihr Interesse an den Diadochenkämpfen an der Spitze verloren hat. Der Schwung und die befreiende Mobilisierung, die in den Anfangsjahren der Perestroika sichtbar waren, sind einer Lethargie gewichen. So weist zwar Gorbatschows Vorschlag, die Privatisierung der Landwirtschaft von den Bürgern in einer Volksabstimmung zu legitimieren, in die richtige Richtung, kommt aber zu spät. Der Vorschlag ist zudem, wahrscheinlich zu Recht, schon während der Diskussion im Obersten Sowjet als Verzögerungstaktik bezeichnet worden. Der sich jetzt abzeichnende Dialog an einem runden Tisch, der alle politischen Strömungen einschließen muß, ist vielleicht die letzte Chance für eine „geordnete“ Radikalisierung der Reform von oben. Angesichts des erwarteten Mangelwinters werden sich die Sowjetbürger nicht ewig zu Zuschauern degradieren lassen. Und auch diese Aussicht verheißt bei der um sich greifenden Intoleranz nichts Gutes. Erich Rathfelder

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