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Der General tritt ab, Walesa kandidiert!

Warschau (ap/taz) — General Wojciech Jaruzelski, erst im letzten Jahr von einem Parlament zum Präsidenten gewählt, das selbst nur zum Teil demokratisch legitimiert war, hat sich mit Disziplin und Würde von der Macht verabschiedet. Im Anschluß an eine Teestunde führender Politiker beim polnischen Primas Glemp, die sich allerdings bis in den Abend hinzog, ließ er erklären, er werde das Parlament um die Verkürzung seiner Amtszeit ersuchen, damit der Weg frei sei für Präsidentschaftswahlen durch das Volk. Als spätester Termin wird der 13.12. genannt, jener Tag also, an dem der General 1981 den Kriegszustand über Polen verhängt hatte. Wird diese Lösung vom Sejm akzeptiert, so ließe sich eine Vakanz zwischen dem Rücktritt des alten und der Wahl eines neuen Präsidenten vermeiden — eine „weiche Landung“, wie sich Senatspräsident Stelmachowski ausdrückte.

Kardinal Glemp, der mit seiner Einladung an die alte Rolle des polnischen Primas als Vermittler und Übergangssouverän (Interrex) anknüpfte, gelang es allerdings nicht, alle Verfahrenskonflikte zu lösen. So bleibt unklar, ob die Präsidentenwahlen zuerst stattfinden, wie es Walesa und seine Freunde wollen, oder zeitgleich, wie es das Lager um Ministerpräsident Mazowiecki wünscht.

Walesa hatte rechtzeitig vor der Teestunde endgültig seine Kandidatur bekanntgegeben. Mazowiecki schweigt noch, doch verlautet von seiten Vertrauter, er sei zu einer Gegenkandidatur bereit. Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts OBOP vom Anfang September dieses Jahres könnte Mazowiecki mit 37% der Stimmen rechnen, Walesa mit 15%. Ob allerdings der konziliante und auf Ausgleich bedachte Premier gegenüber einem Kandidaten bestehen kann, der mit Verve, Ausstrahlung und einer gehörigen Portion Demagogie den Wahlkampf bestreiten wird, ist ungewiß.

Bei der Auseinandersetzung zwischen dem Gewerkschaftsführer und dem Ministerpräsidenten handelt es sich nicht nur um eine Differenz der Temperamente und politischen Stile. Mazowiecki verfolgt zwar einen radikalen Kurs des Übergangs zur Marktwirtschaft, steht aber gleichzeitig für eine Politik der Aussöhnung mit den Herrschern von gestern und für schrittweise politische Reformen. Demgegenüber will Walesa auf allen Gebieten „beschleunigen“ und mit der Ex-Nomenklatur überall dort abrechnen, wo sie alte Machtpositionen hält oder sich neue erschlichen hat. Christian Semler

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