: Die erleichterten Franzosen
Jetzt sind auch die Franzosen infiziert. Für Bio- und Vollwertkost waren die Genießer in Frankreich nie zu haben, doch nun ist jenseits des Rheins das Light-Age angebrochen. Das Zauberwort heißt „allégé“, übersetzt „erleichtert“. Pate stand bei dieser werbewirksamen Formulierung das aus den USA importierte „light“. Die einst von Frankreichs Meisterköchen kreierte „neue Küche“, deren Fettarmut der gepflegten Kochkunst den Todesstoß versetzen sollte, geriet damit endgültig in die Niederungen des Supermarktes.
Mit dem vermeintlichen Gütesiegel „allégé“ werden Butter, Käse und viele andere Molkereiwaren, Getränke, Salatsoßen, Kaugummi, Wurstwaren und sogar Hundefutter an den Konsumenten neuen Typs gebracht. „Ein neuer Kult entstand“, schrieb die Wochenzeitung 'Le Point‘, „den man nicht mit einer kurzlebigen Sommermode abtun kann.“ Man glaubt der Werbung, die dem guten, sprich schlanken Staatsbürger den Wunschtraum vom elfenartigen Menschen verspricht. Dabei „haben die Franzosen im allgemeinen eine hohe Lebenserwartung und neigen weder besonders zur Fettsucht noch zu Herz- und Kreislauferkrankungen“, wundert sich der Diätiker Marian Mandelbaum. Nur 15 Prozent der Bevölkerung brauchen Schonkost. „Die anderen verpfuschen ihr Leben!“
Dennoch will nach einer Statistik fast jeder dritte Franzose bis zu fünf Kilo abnehmen. „Ich verbiete meinen Patienten erleichterten Käse“, sagt Dr. Agnes Mouton, Autorin des Bestsellers Die beste Methode abzunehmen, „mir ist lieber, sie essen 30 Gramm echten Cambert.“ Denn die leichte Kost sei oft nur ein Vorwand sich vollzustopfen. „'Light' ist ein typisches Produkt der Technologie und städtischen Kultur und bedeutet das Gegenteil einer ökologischen Rückkehr zur Natur. Es gibt nichts Unnatürlicheres, als Butterfett durch Stärke und Proteine zu ersetzen, Stickstoff in Leberpastete und Schokoladencreme zu blasen“, verunsicherte 'Le Point‘ die Anhänger der neuen Speisen. Die Hersteller der Produkte sehen das ganz anders. „Wir erleben eine zweite individualistische Revolution“, freute sich ein Marketing-Boß. „Eine maximale Bedürfnisbefriedigung à la carte“, überbot ihn ein Soziologe. In Gefahr bringen die neuen Eßgewohnheiten Familienleben und Geselligkeit. So berichten Ernährungswissenschaftler von Familien, die seit Monaten nicht mehr gemeinsam zu Tisch saßen. Jeder knabbert bei den Mahlzeiten in einer anderen Ecke. Karl Wegmann
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