: Das Ehepaar muß entmachtet werden
Der Trend geht zu anderen Lebensformen, nur die Politik orientiert sich stereotyp an der „Gattenfamilie“/ Alleinerziehende Eltern eklatant benachteiligt ■ Von Carola Schewe
„Die Diskriminierung Alleinerziehender ist politisch gewollt!“ Das mußte mal gesagt werden. Christine Swientek von der Universität Hannover sparte während der öffentlichen Anhörung der SPD-Bundestagsfraktion Ende August nicht mit deutlichen Worten. „Seit einem Vierteljahrhundert referieren wir die gleichen Trends. Wenn wir je etwas erreicht haben, dann eine neue empirische Forschungsarbeit. Aber unseren Forderungen wurde nicht gefolgt. Ich verlange: Ende der Redezeit!“
Veranstalterin Renate Schmidt, stellvertretende SPD—Fraktionsvorsitzende, erkannte die Diskutiermüdigkeit wohl an. Aber sie wußte auch vom öffentlichen Desinteresse an dem Phänomen Einelternfamilie zu berichten und von der ungebrochenen Macht der Ehepaargesellschaft: „Immer noch ist das traditionelle Familienideal der geschlechtsspezifisch arbeitsteiligen Gattenfamilie, wie es in der familienwissenschaftlichen Forschung so schön heißt, Leitbild und Maßstab für alle anderen Familien beziehungsweise Lebensformen.“
Das Bewußtsein der Öffentlichkeit folgt den Tatsachen nur zögernd. Fakten sind: In Großstädten gibt es bereits eine 1:1:1-Teilung der Gesellschaft. Je ein Drittel der Haushalte wird von Alleinerziehenden und nichtehelichen Stieffamilien, Verheirateten mit und ohne Kinder sowie Singles gebildet. Brandneu zum Beispiel die Zahlen aus Krefeld, einer 25.000-Einwohner-Stadt mit ländlich geprägtem Umfeld: 27 Prozent der Haushalte sind hier Einelternfamilien. In der DDR gibt es etwa 300.000 „echte“ alleinerziehende Mütter — also ohne Stieffamilien. Das sind über zehn Prozent der Frauen der entsprechenden Altersgruppen, so die von der Ostberliner Soziologin Christiane Biallas vorgelegte Datenübersicht. Gunhild Gutschmidt vom westdeutschen „Verband alleinstehender Mütter und Väter“ (VAMV) schätzt, daß jede vierte Mutter hierzulande mindestens einmal für einige Zeit alleinerziehend war oder ist.
Immer mehr Kinder werden außerhalb der Ehe geboren, in Ostberlin ist es schon fast jedes zweite. In Westdeutschland steigt die Quote seit Jahrzehnten stetig an, auch relativ gesehen: auf neun eheliche Kinder kommt inzwischen ein nichteheliches Kind. Aber auch die ehelichen Kinder machen immer häufiger die Erfahrung, mit Mutter oder Vater alleine zu leben: in der DDR sind zehn Prozent aller Kinder betroffen, in Nordrhein-Westfalen zum Beispiel etwa 14 Prozent.
Jetzt schon beträgt das Verhältnis von „anderen Lebensformen“ zur Ehepaarfamilie 14 zu zehn Millionen. Wobei das Statistische Bundesamt Mühe hat, die nichtehelichen Lebensgemeinschaften tatsächlich zu erfassen; es wird dann geschätzt. Und eine Querschnittsuntersuchung — wo also schlaglichtartig an einem Stichtag die jeweilige Lebensform registriert wird — bietet kein vollständiges Bild. Es wird nämlich nicht erfaßt, wie persönliche Entwicklungen verlaufen. Die Lebenserfahrung „Alleinerziehen“ haben viel mehr Menschen gemacht als an einem Stichtag zu erfahren ist.
Alleinerziehende bewerten diese Erfahrung auch höchst unterschiedlich. Die meisten Rednerinnen betonten bei der Anhörung wie Renate Schmidt: „Die Lebenssituation von Alleinerziehenden: Es gibt sie so nicht. Es gibt 1,8 Millionen völlig verschiedene Lebensstrategien.“
Einfältige Politik für die Familie
Dieser Vielfalt steht die Einfalt bisheriger Politik gegenüber. Es wird stereotyp Politik für das Ehepaar gemacht — noch nicht einmal für die Familie. Nur die Grünen mit ihrem Antidiskriminierungsgesetz können von diesem Vorwurf ausgenommen werden. Mittlerweile hat allerdings die SPD-Finanzpolitikerin Ingrid Matthäus-Maier gefordert, das Ehegatten-Splitting im Steuerrecht zu reformieren, um so sechs Milliarden Mark jährlich für ein höheres Kindergeld freizumachen. Renate Schmidt stellte jetzt sogar die Notwendigkeit einer Grundgesetzänderung fest. Die Ausrichtung auf das Ehepaar solle verschwinden, das Zusammenleben mit Kindern als die Lebensform betrachtet werden, die vom Gesetzgeber besonders zu schützen ist.
Auswirkungen hätten solche Änderungen unter anderem auf das Steuerrecht. Zum Beispiel gehen in die Berechnung der Steuerhöhe nicht die realen Kinderkosten ein, sondern nur eine fiktive, geringe Ermäßigung über die Steuerklasse. Das bedeutet: Kinder kosten zwar viel, aber ihre Sorgeberechtigten werden so besteuert, als hätten sie diese Kosten nicht am Hals. Alleinerziehende bekommen zudem nur ein „halbes“ Kind gutgeschrieben, selbst wenn die Unterhaltszahlung des anderen Elternteils nicht die Hälfte der Lebenshaltungskosten des Kindes deckt.
Es geht um mehr als Gleichstellung
Eine Politik, die positiv für Alleinerziehende ist, erschöpft sich allerdings nicht in purer Gleichstellung. Sie muß auch kostenintensive Sozialpolitik sein. Mehr Mittel müssen vor allem bereitgestellt werden für
—öffentliche Kinderbetreuung
— Arbeitsmarkt-Hilfen
—zielgruppenorientierten Wohnungsbau.
Fehlende Kinderbetreuung, beziehungsweise ihr hoher Preis, ist die Hauptursache für die Armut alleinerziehender Frauen. Diese Binsenweisheit hat Uta Enders-Dragässer vom Frankfurter Institut für Frauenforschung in einer großangelegten Fragebogenaktion überprüft. Die noch nicht veröffentlichte Studie, erstellt im Auftrag der hessischen Gleichstellungsstelle, beruht auf 1.000 Befragungen.
Ein Ergebnis: Jede zweite der befragten Alleinerziehenden wird durch fehlende Kinderbetreuungsmöglichkeiten an Erwerbsarbeit, Aus- oder Fortbildung im gewünschten Umfang gehindert. Und das, obwohl Kindertagesstätten, Horte und Krippen Alleinerziehenden bevorzugt offen stehen. Allerdings ist der Arbeitsmarkt nicht gerade frauenfreundlich. Und das betrifft Alleinerziehende, die ja auf Erwerbstätigkeit angewiesen sind, besonders. Frauen besetzen mehrheitlich die schlechtbezahlten Berufe und haben kaum Aufstiegschancen. Hinzu kommt, daß ihnen eingeredet wird, Kinder seien nur bei der Mutter gut aufgehoben.
Das Resultat dieser Benachteiligungen: alleinerziehende Frauen verdienen deutlich weniger als alleinerziehende oder gar verheiratete Männer. Alleinerziehende Mütter dürfen also nicht weiter auf „flexible“, sozial nicht abgesicherte Beschäftigung verweisen. Die Mütter brauchen neben einer guten Ausbildung qualifizierende Umschulungs- und Fortbildungsmöglichkeiten sowie die Chance, Berufserfahrung zu sammeln.
Die DDR-Frauen haben nach Ansicht Gisela Deckers vom „Verband Selbsthilfeinitiative Alleinerziehender (SHIA) das umgekehrte Problem. In ihrem Verband hört sie von vielen Frauen, die sich Teilzeitarbeit wünschen, Reduzierung der täglichen Arbeitszeit, bessere Kindertagesstätten. Von der Ost-CDU wurden diese bisher verdrängten Wünsche kürzlich so interpretiert: 80 Prozent der Mütter wollten gerne als Hausfrau zu Hause bleiben. Gisela Decker hält das für weit übertrieben. Diese „alberne Diskussion“ um die Schädlichkeit öffentlicher Kinderbetreuung hätte es in der DDR nie gegeben. „Vor Ihnen steht übrigens ein neurotisches Krippenkind“, bekräftigte Gisela Decker ironisch ihre Forderung nach Erhalt und Verbesserung der Betreuungseinrichtungen.
In den anderen EG-Ländern ist die Erwerbsquote von Müttern ähnlich hoch wie bei uns (knapp unter fünfzig Prozent), öffentliche Kinderbetreuung aber viel selbstverständlicher. EG-Sozialexpertin Hortense Hörburger wußte zu berichten, daß alle Länder der Europäischen Gemeinschaft bessere Kinderbetreuung böten als die Bundesrepublik.
Einen Überblick über die Situation alleinerziehender Eltern bietet Rolf Roennefahrt vom VAMV- Bundesvorstand in seinem gerade erschienenen „Schwarzbuch. Alleinerziehende im Nachteil“.
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