: „Das alte System ist zusammengebrochen“
■ Dr. Ulrich Weißenburger ist SU-Experte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) INTERVIEW
taz: Schatalin, Ryschkow, Aganbegjan — was sind die Unterschiede dieser Pläne für den Übergang zur Marktwirtschaft?
Dr. Ulrich Weißenburger: Der wesentliche Unterschied besteht eigentlich zwischen dem Ryschkow und dem Schatalin-Plan. Der Ryschkow-Plan ist langfristig angelegt, im Ryschkow-Plan soll noch in den nächsten zwei Jahren hauptsächlich mit administrativen Mitteln gearbeitet werden, während der Schatalin-Plan ja den Übergang in die Marktwirtschaft in 500 Tagen verspricht. Ryschkow will möglichst schnell administrative Preiserhöhungen, Schatalin will im Prinzip auch die Preise freigeben, nur bestimmte Grundnahrungsmittel erst einmal fixieren. Der dritte Unterschied liegt in dem radikalen Privatisierungsprogramm, das Schatalin vorschlägt: Unternehmen und Boden sollen möglichst schnell privatisiert werden. Die Staatswirtschaft soll so zurückgedrängt werden, während Ryschkow die Staatswirtschaft zumindest mittelfristig beibehalten will. Viertens geht Schatalin von der Eigenständigkeit der Republiken aus und erkennt damit den Ist-Zustand an. Das ist seiner Meinung nach nicht zurückzudrehen. Bei der Union verbleibt nur noch ein begrenzter Teil der Funktionen, zum Beispiel soll eine einheitliche Währung noch beibehalten werden, doch die Republiken sollen im Prinzip die Details der Wirtschaftsreform gestalten. Ryschkow dagegen geht weiterhin von einer einheitlichen Wirtschaftspolitik aus, von einer einheitlichen Geld- und Steuerpolitik. Dahinter steckt der Anspruch, die Union zusammenzuhalten.
Was passiert mit den zentralen Leitungsinstanzen wie Gosplan in beiden Varianten?
Die Abschaffung der Gosplan-Behörde [mit mehreren hunderttausend Beschäftigten, d.Rre.] ist bei Ryschkow nicht vorgesehen, aber bei den Branchenministerien soll ein schrittweiser Abbau erfolgen. Ministerien werden übrigens jetzt schon aufgelöst. Es ist jetzt für Betriebe schon möglich, selbständig zu handeln, wenn die Belegschaft ihren Betrieb pachtet. Dieser Auflösungsprozeß ist schon im Gange.
Bei der raschen Preisliberalisierung befürchten manche eine Preisexplosion.
Deshalb will ja Schatalin das Privatisierungsprogramm durchsetzen. Indem Unternehmen, Wohnungen etc. verkauft werden an die Bevölkerung, soll Kaufkraft abgeschöpft und der Inflationsschub gemildert werden.
Das führt aber noch nicht zum Initialeffekt für eine erweiterte Warenproduktion.
Man geht von der Anlayse aus, die wirtschaftlichen Probleme werden durch die mangelnde Motivation der Betriebe und den monopolistischen Strukturen der Wirtschaft produziert. Durch Herstellung von Konkurrenz und Reduktion der Subventionen soll dem entgegengearbeitet werden. Der Plan Schatalins lebt davon, daß sich jemand findet, die Betriebe zu übernehmen. Wenn dies nicht geschieht, ist das ganze Programm obsolet.
Unternehmerpersönlichkeiten könnten aber in der UdSSR dünn gesät sein...
Es gibt aber welche, das sieht man schon an den Kooperativen, die sich bisher entwickelt haben. Die Frage ist aber, ob die, die da sind, fähig sind, ein Unternehmen zu leiten.
Gibt es denn genug Kapital?
In der Sowjetunion gibt es das Problem des Kaufkraftüberhangs, das sich jetzt im schwarzen Markt und in dem inflationären Druck äußert.
Das würde voraussetzen, daß die zu erwartende Dividende höher ist als die Inflationsrate...
Das ist sicherlich eine der Voraussetzungen, es geht ja nicht nur um den Aktienverkauf, sondern um die komplette Übernahme von Unternehmen, was bisher noch nicht möglich war.
Das nächste Problem ist das der Infrastruktur.
Das ist eine Schwierigkeit, mit der beide Programme leben müssen. Man muß jetzt abwägen, was realistischer ist. Mit dem Ryschkow-Plan hat man ja Erfahrungen gemacht, das ist ja nur die Fortschreibung des Ist-Zustandes. Die Kommunikationsnetze sind natürlich schlecht, das ist jetzt schon eine der Hauptprobleme. Grundsätzlich gilt, die alte Struktur ist noch da, kann aber nicht mehr in der alten Weise wirken, die neuen Strukturen sind nur rudimentär verhanden, dies muß verändert werden. Jetzt sind die Läden leer, weil die Waren auf dem Weg dahin verschwinden. Das alte System ist faktisch zusammengebrochen.
Welche Institutionen können denn die Reform überhaupt durchsetzen? Bei Schatalin ist das auch nicht klar.
Das ist eine schwache Stelle des Plans, das ganze Know-how und die entsprechenden Institutionen sind nur rudimentär vorhanden, teilweise werden die jetzt gegründet. Wenn allerdings auf Republiksebene, Rußland hat ja schon auf das Schatalin-Programm gesetzt, und auf Unionsebene unterschiedliche Programme beschlossen würden, wäre das kriminell. Zum Beispiel wenn die Staatsbank der UdSSR, die jetzt übrigens noch über die Geldmenge wacht, und die Staatsbank der RSFSR sich darüber streiten würden, wer für die Kreditpolitik zuständig ist, wäre das fatal. Wenn jetzt aber Elemente des Ryschkowplans in den Schatalinplan eingearbeitet werden, dann sind schwerwiegende Konflikte zwischen den Republiken und der Zentrale abzusehen. Dann würde der Zusammenbruch noch erheblich beschleunigt. Interview: Christian Semler
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