: Ab nach Istanbul ...
■ Ein aktueller Beitrag zur »Woche des ausländischen Mitbürgers«: Innenverwaltung billigte Abschiebung von 17jähriger Vollwaise nach Istanbul — obwohl das Mädchen dort niemanden hat
West-Berlin. Morgens um 7 Uhr 15 klingelt es an der Tür. Uniformierte Vollzugspolizisten wollen die knapp 17jährige Nurhayat Topcugullari abholen, das Flugzeug nach Frankfurt startet in zwei Stunden. Gepäck und Geld darf sie nicht mitnehmen. Nurhayat soll abgeschoben werden, nach Istanbul, sofort und ohne Vorwarnung. Proteste nützen nichts, das angsterfüllte Mädchen wird in ein Polizeiauto gesteckt und zur Anlaufstelle in die Gothaer Straße gefahren. Dort sitzen noch mehr Türken, die Ausländerbehörde feiert Abschiebetag. In einer Wanne geht es zum Flughafen, mit Begleitpolizisten fliegen die Unglückseligen zwangsweise nach Frankfurt. Nurhayat landet in einer Zelle der »Schubabteilung«, Nurhayat ist Abschiebehäftling. Geschehen am letzten Donnerstag, wenige Tage vor dem »Tag des Flüchtlings« und zu verantworten vom rot-grünen Senat.
Ihr Makel ist ihr Familienstand: Sie ist ein »Vormundschaftskind«. Der Vater starb 1976, der Mutter wurde das Sorgerecht entzogen, als Vormund wurde vom Amtsgericht Ankara der Onkel des Mädchens bestimmt, und der lebt sei 1971 in Berlin. Seit Februar 1989 lebt Nurhayat nun hier. Sie hat einen einjährigen Eingliederungslehrgang für ausländische Jugendliche mit gutem Erfolg besucht, geht jetzt zur Schule, und ihr Deutsch verbessert sich von Tag zu Tag. Eine Aufenthaltserlaubnis ist ihr von der Ausländerbehörde bereits im Sommer letzten Jahres verweigert worden. Vormundschaftskinder haben kein Recht, in Berlin zu leben, im Ausländererlaß wird nur das Nachzugsrecht für leibliche Kinder geregelt, nicht für angenommene. Da klafft eine Gesetzeslücke, und nach einem Beschluß des parlamentarischen Innenausschusses von 1985 wird die Frage „Abschieben oder nicht abschieben?“ seitdem im Einzelfall entschieden. Der ehemalige CDU-Innensenator Kewenig hat während seiner Amtszeit kein einziges Vormundschaftskind zurückschicken lassen, der jetzige SPD-Senator Pätzold muß im Moment mehrere Einzelfälle entscheiden.
Die Linie ist angedeutet. Nurhayat wurde abgeschoben, obwohl kein Mensch in Istanbul vorhanden ist, der sich um sie kümmern könnte. Nurhayat hatte noch Glück im Unglück. Ihr Onkel benachrichtigte den auf Ausländerrecht spezialisierten Rechtsanwalt Meyer. Dem glückte es, der Ausländerbehörde einen Asylantrag auf den Tisch zu legen. Die mußte reagieren und die Flughafenpolizei anweisen, Nurhayat nach Berlin zurückzuschicken. Jetzt ist sie wieder da, aber der Schock nicht abgeklungen — und die Sache geht weiter ... aku
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen