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Herrscher ohne Legitimation

■ Koloniales Erbe, feudale Ölscheichs und arabischer Nationalismus KURZESSAY

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann im Nahen Osten mit dem Abzug der Franzosen aus Syrien und dem Libanon der Prozeß der Entkolonialisierung, der mit der Entlassung der Golfstaaten aus britischer Vormundschaft in den 60er Jahren seinen Abschluß fand. Große Hoffnungen verbanden die jungen arabischen Staaten mit einer selbstbestimmten Zukunft. Arabischer Sozialismus und arabische Einheit waren die Ideale. Weitreichende Bodenreformen, verstärkte Bildungsanstrengungen, Liberalisierungen der Wahl- und Rechtssysteme, umfassende Industrialisierungsprojekte und der Aufbau schlagkräftiger Armeen sollten diese ehrgeizigen Ziele verwirklichen helfen. Doch schon der damals bedeutendste arabische Hoffungsträger, Gamal Abdel Nasser, dessen Charisma sich auf die Nationalisierung des Suezkanals im Jahre 1956 gründete, fühlte sich letztlich dem Ideal der arabischen wahda — der umfassenden Einheit aller Araber — nur bedingt verpflichtet. Erst wollte er sich der Entwicklung Ägytens annehmen, und erst dann den gesamtarabischen Rahmen schaffen.

Doch Nassers Entwicklungsplan setzte Revolutionen in den Öl-Emiraten und -Monarchien der Arabischen Halbinsel geradezu zwingend voraus. Denn nur diese Staaten besaßen auch die dafür nötige wirtschaftliche Potenz. Das für Revolutionen unabdingbare industrielle Proletariat fehlte jedoch schlichtweg in den feudalistisch-paternalistischen Golfstaaten. Und die herrschenden Prinzen und Potentaten zeigten wenig Bereitschaft, eine Ideolgie zu unterstützen, deren erklärtes Ziel ausgerechnet in ihrer Abschaffung bestand. Mit der verheerenden Niederlage gegen Israel im Sechstagekrieg vom Juni 1967 erlebte der Nasserismus sein schmerzlichstes Debakel. Er hat sich davon nie mehr erholt.

Auch in den unterschiedlichen Fraktionen der Baath-Partei, der 1940 von dem syrischen Christen Michel Aflaq und dem Muslim Salah ad-Din al-Bitar gegründeten „Arabischen Sozialistischen Partei der Wiedergeburt“, stritt man sich weit weniger um die arabische Einheit denn um die Bedeutung des permanenten Klassenkampfes. Der seit den 60er Jahren schwelende Streit zwischen dem syrischen und dem irakischen Baathismus läutete dann endgültig den Abschied vom Traum der arabischen Einheit ein. Nach wie vor gibt es nur die im Frühjahr 1945 gegründete Arabische Liga, einen losen Zusammenschluß arabischer Staaten. Und selbst der Name „Arabische Liga“ ist euphemistisch. Denn in einigen Mitgliedsländern ist die Bevölkerungsmehrheit noch nicht einmal des Arabischen mächtig.

Um die wahda ist es also denkbar schlecht bestellt. Gerade heute sieht sich die Baath-Ideologie daher mit den islamischen Fundamentalisten konfrontiert, die einen konservativ verstandenen Islam ohnehin für ein stärkeres Bindeglied halten als den säkularisierten Nationalismus. Freilich, ein politisches Sachprogramm haben die Religiösen nicht zu bieten. Der massive Zulauf, den sie gegenwärtig in der arabischen Welt verbuchen, ist vielmehr Ausdruck von Orientierungsverlusten, ausgelöst durch das Scheitern aller bisherigen arabischen Antworten wie Reformislam, Liberalismus, Nationalismus und Sozialismus auf die politischen und sozialen Erfordernisse der Zeit. Der Islamismus ist der Versuch einer politischen und kulturellen Antwort auf die permanenten Demütigungen, denen sich die arabische Welt durch den dominierenden Westen und dessen Stellvertreter Israel in der Region ausgesetzt sieht.

Trotz weitreichender Dialogangebote und der formellen Anerkennung des Staates Israel, zu der sich PLO-Chef Arafat schließlich bereitfand, gab es keine Gespräche zwischen der PLO und Israel. Aber statt den sturen Verbündeten mit Sanktionsandrohungen an den Verhandlungstisch zu bewegen, brachen die USA den Dialog mit der PLO ab. Und bis heute hat sich die neue, rechtsnationale israelische Regierung geweigert, klipp und klar zu erklären, daß sie die jüdischen Neueinwanderer aus der Sowjetunion nicht in den besetzten Gebieten ansiedeln wird.

Neben Israel setzten die USA stets auf die feudalen Ölpotentaten am Golf. Und die Öl-Scheichs, die immerfort in der Angst leben, von ihren Völkern und den in ihren Staaten arbeitenden Palästinensern vertrieben zu werden, sind — letztlich in Kooperation mit Israel — bereit, dafür den USA den freien Zugang zum Öl am Persisch-Arabischen Golf zu garantieren.

Der irakische Präsident Saddam Hussein, der schon bei der ganz individuellen Ausgestaltung „seiner“ Baath-Ideologie eine bemerkenswerte Flexibilität zeigte, verbindet seit der Annexion Kuwaits seine Expansionspolitik geschickt mit den Problemen der Region. Die Aneignung Kuwaits bezeichnet er als „Korrektur kolonialer Linealstriche“. Einem militärischen Rückzug will er nur zustimmen, wenn auch die Israelis sich aus Westbank, Gazastreifen und Ostjerusalem zurückziehen. Den saudischen „US-Lakeien und-Agenten“ wirft er vor, die heiligen Stätten Mekka und Medina entweiht zu haben, indem sie christlichen „Schweinefleischfressern“ deren Schutz anvertrauten. Und auf den Vorwurf der Amerikaner, er habe mit dem Einmarsch in Kuwait gegen das Völkerrecht verstoßen, verweist Saddam auf deren Überfall auf Grenada und Panama.

Bei den arabischen Massen und einigen arabischen Regierungen genießt Saddam — weltweit zweifellos einer der skrupellosesten Diktatoren — eine Popularität, die nicht zu unterschätzen ist. Vielen Arabern erscheint die Invasion Kuwaits weit annehmbarer als die Verteidigung arabischen Territoriums durch Truppen, die für sie untrennbar mit der Gründung des Staates Israel, kolonialer Ausbeutung und mittelalterlichen Kreuzzügen verbunden sind.

Saddam versteht es, diese Stimmungen aufzugreifen. Dazu verknüpft er sogar den laizistischen Baathismus mit religionspolitischen Forderungen und geriert sich als Universalerbe von Nasser und Chomeini. Der Herrscher vom Tigris versucht so, eine Union von arabisch-nationalen und islamischen Kräften gegen den US-dominierten Truppenaufmarsch zu schmieden, der laut Saddam ohnehin nur die dauerhafte Besetzung der Arabischen Halbinsel zum Ziel hat. Den armen Arabern stellt er zusätzlich eine Umverteilung zwischen Arm und Reich in Aussicht. In einem offenen Brief an Mubarak teilt er „das arabische Öl allen Arabern“ zu. Den „korrupten und feisten Scheichs“ am Golf wirft er darin vor, sich die Ölmilliarden in die ohnehin längst prall gefüllten, eigenen Taschen zu stopfen, derweil viele arabische Brüder darben. Plausibilität ist diesem Vorwurf keineswegs abzusprechen. Denn während das jährliche Pro-Kopf-Einkommen in den Golfstaaten bei mehr als 15.000 US-Dollar liegt, kommen der Sudan, Somalia, Mauretanien, der Jemen oder Dschibuti — alle genannten Staaten sind Mitglieder der Arabischen Liga — kaum auf 500 US- Dollar. Kein Wunder also, daß gerade diese Länder schon immer neidvoll auf die superreichen Brüder am Golf schielten.

Saddam hat aber auch, wie der Arafat-Vertraute Hani al-Hasan meint, die Stimmung unter den Palästinensern richtig eingeschätzt. „Auf der Seite der Palästinenser hat ein Erosionsprozeß stattgefunden, was die Möglichkeit eines Kompromisses mit Israel betrifft.“ Viele Palästinenser sehen in dem Bagdader Despoten den einzigen arabischen Führer, der Israel und die USA furchtlos herausfordert, während die anderen, wie es der jordanische Soziologe Kamil Abu Dschabir formuliert, „flach auf dem Bauch liegen“. Was blieb Arafat, dem politisch so erfolg- und glücklosen „Staatschef“ ohne Land anderes übrig, als ins Lager von Saddam überzulaufen, wollte er nicht riskieren, nun auch noch ohne Volk dazustehen?

Die Israelis haben — wie schon 1980 durch Saddams Überfall auf den Iran — durch die Kuwait-Invasion eine Entlastung erfahren. Der internationale Druck, endlich über die Palästinenserfrage zu verhandeln, hat sich verflüchtigt. Jeder im Westen weiß schließlich: Sollte es zu einer militärischen Konfrontation am Golf kommen, dann hat Israel eine gewichtige Rolle zu spielen.

Was immer König Hussein, Mubarak oder andere arabische Oberhäupter von Saddams neuem Überfall halten mögen, beim Showdown zwischen Bagdad und Washington werden sie kaum auf Seiten der USA verbleiben können. Denn das Risiko, daß ihre Völker ihnen kurzerhand die Gefolgschaft aufkündigen, ist nicht gering. Wie die Golfkrise auch enden wird: Sowohl der arabische Nationalismus als auch die Frage nach der Legitimation der feudalen Öl- Scheichs und nach deren „kolonialen Ölbohrlöchern mit Flagge“ wird auch einen militärischen Schlagabtausch und eine (möglicherweise) langfristige US-Besetzung der Golfregion überdauern. Walter Saller

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