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Kinder als Gipfel-Kulisse

Internationale Polit-Prominenz bei UNICEF-Veranstaltung in New York brachte nur Fensterreden zuwege/ „Konvention über die Rechte des Kindes“ soll Kindersterblichkeit reduzieren und Ausbildung verbessern/ Keine Stellungnahme zur Schuldenpolitik  ■ Aus New York Rolf Paasch

Vor dem UN-Plaza-Hotel in der 44.Strasse stehen die schwarzen Chevrolets des Secret Service in Doppelreihen geparkt. Lässig lehnen Geheimdienstagenten in der warmen Herbstsonne gegen die dunkel getönten Scheiben ihrer Fahrzeuge und warten auf den nächsten Auftrag: Staatschef Mr. X vom Helikopter-Landeplatz abholen oder die Gattin von Staatschef Mr. Y zum Shopping-Trip begleiten. Dazwischen rennen Scharen von Kindern der „Benetton Generation“ durch die Strassen vor dem UNO-Gebäude am East River, auf dem Weg zu einer symbolischen Bäumchen-Pflanzaktion oder einem Solidaritäts-Gesang für die Kinder dieser Welt.

Um sie, die leidenden Kinder aus der Dritten Welt und den Slums westlicher Ghettos, geht es an diesem Wochenende. Das Kinderhilfswerk der UNO, UNICEF, hatte gerufen, und über 70 Staatschefs waren zum Gipfel nach New York gekommen. Denn Kinder sind für die Politik immer gut. Man kann sie auf den Arm nehmen und vor den Fernsehkameras liebevoll küssen, man kann sie als Kulisse für Fototermine benutzen — nur füttern und am Leben erhalten kann man sie offenbar nicht. 14 Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an den Folgen der Unterernährung und mangelnder Krankheitsvorsorge, davon 80.000 allein an diesem Gipfel-Wochenende. Um auf diese hohe Kindersterblichkeit und die katastrophalen Lebensbedingungen jener 1,5 Milliarden Kinder hinzuweisen, die uns noch in den 90er Jahren geboren werden, reichen die Fernsehbilder von hungernden Kindern in Äthiopien, von Sklavenkindern im Fernen Osten und von Straßenkindern in Brasilien offenbar nicht mehr aus. Jetzt mußte auch noch Polit-Prominenz aus aller Welt nach New York jetten, um dort am Sonntag die im letzten November nach zehnjährigem Kampf von der UNO verabschiedeten „Konvention über die Rechte des Kindes“ zu unterzeichnen.

In dem UNO-Gebäude war für die 71 Staatschefs von Albanien bis Simbabwe der größte Runde Tisch aller Zeiten zusammengezimmert worden; damit sich Bush, Thatcher und Co. auch im rechten Kameralicht präsentieren konnten. Für die 3.000 akkreditierten Journalisten gab es zentimeterdickes Zahlenmaterial. Danach werden von „typischen“ 100 Kindern im ersten Lebensjahr sechs sterben, bis zum Alter von Fünf drei weitere; 28 leiden unter mangelhafter Ernährung und Krankheit. Allein Aids wird bis zum Jahr 2.000 2,5 Millionen Kinderleben kosten. Um das Leid um die Hälfte zu reduzieren, so der bescheidene Ansatz von UNICEF, wären pro Jahr 2,5 Milliarden Dollar nötig. Soviel gibt die Welt täglich für Rüstungsanstrengungen aus, die US-Bürger im Jahr für Hunde- und Katzenfutter. Was die auf Industrieförderung abzielende Entwicklungshilfe der 70er und 80er Jahre nicht geschafft hat, soll in den 90er Jahren durch elementare Gesundheitsprogramme und Hilfe zur Selbsthilfe erreicht werden. Die Erklärung von New York verpflichtet die Unterzeichnerstaaten zu einer Reduzierung der Kindersterblichkeit bis zum Jahr 2000 um ein Drittel, die Halbierung der Müttersterblichkeit bei der Geburt um die Hälfte und die Versorgung aller Kinder mit Wasser und Grundausbildung bis zum nächsten Jahrhundert.

Bisher jedoch haben nur 40 der 109 Unterzeichnerstaaten jene dem Dokument zugrunde liegende UNO- Resolution ratifiziert. Ob US-Präsident Bush das Dokument dem Senat vorlegen wird, ist noch unklar. Amerikanische Konservative hatten die Konvention kritisiert, weil sie sich gegen eine Todesstrafe für minderjährige Straftäter, aber nicht ausdrücklich gegen die Abtreibung ausspricht. Daß in New York der vatikanische Außenminister Cardinal Casaroli eine von vielen Staatsoberhäuptern besuchte Kindermesse hielt, wo die Lehre seiner Kirche doch in striktem Widerspruch zu einer von UNICEF favorisierten Bevölkerungspolitik steht, fiel bei dem Spektakel der sogenannten „World Leaders“ niemandem auf.

Ebensowenig dämmerte Politikern und Medienvertretern, daß sie hier bei der UNO in Sachen Kinderhilfe völlig fehl am Platze waren. Wären sie eine Woche früher gekommen und bis Washington weitergeflogen, hätten sie dort auf die wegweisenden Entscheidungen des Weltbank- und IWF-Treffens über die Schuldenstrategie der Industrienationen gegenüber den Entwicklungsländern Einfluß nehmen können. Vergangene UNICEF-Studien haben immer wieder auf die enge Beziehung zwischen Schuldenkrise und Kindersterblichkeit in der Dritten Welt hingewiesen. Der Jahresbericht von 1988 schätzt beispielsweise, daß in den ärmsten Entwicklungsländern in diesem Jahr alleine 500.000 Kinder an den Folgen des kontinuierlichen Kapitalabflusses gestorben sind.

Doch der fragmentierte Prozeß der internationalen Politik und Meinungsbildung läßt solche Beziehungen unerwähnt. Hatten Finanzminister und Banker erst vor wenigen Tagen in Washington auf eine konstruktive Fortschreibung der im letzten Jahr zögerlich begonnenen Strategie zur Schuldenerleichterung (Brady- Plan) verzichtet, so konnte man in New York erfolgreich vorgeben, die Versprechungen zur Verringerung der Kindersterblichkeit seien diesmal nun wirklich ernst gemeint.

Statt dessen benutzten die Führer dieser Welt ihren New-York-Trip für politische Geschäfte. Da schlossen die USA mit dem vietnamesischen Gegner von gestern Frieden, um unter den Alliierten von heute für den Golf-Krieg von morgen zu werben. Da ging Japans Premier Kaifu die Klinken der Fernseh-Networks putzen, um die Wogen im erneut gespannten japanisch-amerikanischen Verhältnis zu glätten. Die Kinder blieben dabei nur Kulisse.

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