„Wir sind für die Utopie“

Zur Demonstration gegen die „Einverleibung der DDR und für ein selbstbestimmtes Leben“ kamen überraschend viele  ■ Aus Berlin Helga Lukoschat

Vor den neoklassizistischen Fassaden des (Ost-)Berliner Lustgartens trommelte die Frauen-Sambagruppe sich die Seele aus dem Leib und alle guten Geister zusammen. Diese hatten Erbarmen und bescherten den immerhin 20.000 Frauen und Männern, die zur Demonstration und Kundgebung „Gegen die Einverleibung der DDR — Für ein selbstbestimmtes Leben“ gekommen waren, wenigstens prächtiges Herbstwetter. Dabei hätte alles viel schlimmer kommen können, wie eine der Initiatorinnen, Verena Krieger von den Grünen, freimütig erklärte. Denn das Konzept der Demonstration hatte im Vorfeld durchaus für Kritik und Streit gesorgt. Da waren zunächst die Frauen der bundesweiten §218-Koordination und des Unabhängigen Frauenverbandes aus der DDR, die nach der gelungenen Demonstration gegen den Abtreibungsparagraphen im Juni in Bonn für den Herbst in Berlin eine Neuauflage planten. Dabei sollte aber nicht nur Politik gegen den Paragraphen gemacht werden. Die Idee einer Demo mit „allgemeinem Anspruch“, aber unter Frauenregie entstand. Weil schließlich das Unbehagen über den „Anschluß“ immer größer wurde, sollte es zu guter Letzt vor allem eine Ost-West-Veranstaltung gegen die „Einverleibung der DDR“ werden. Aber das ganze drei Tage vor dem Beitritt. Das Motto der Demo drücke lediglich Hilflosigkeit aus, hatten so auch Frauen vom Neuen Forum befunden und darüber hinaus kritisiert, daß der Kampf gegen den Paragraphen 218 über das übliche linke Spektrum hinausgehen müsse. Auch viele West-Feministinnen waren über die inhaltliche Fülle unzufrieden und hätten sich lieber eine reine Frauendemo mit klarerer Zielsetzung gewünscht.

Rund 20.000 waren dann doch da: die Hälfte West, die Hälft Ost, fast genau so viele Männer wie Frauen. Die beste Stimmung herrschte im „internationalen Frauen- und Lesbenblock“. Unermüdlich wurde dort dem Patriarchat „Feuer und Flamme“ angedroht und den Männern Haue: „Wir sind die wilden Frauen, die jeden Typ verhauen. Wir waschen uns nie — Anarchie!“ An der Demospitze ging es ruhiger und gesitteter zu. Für „Eene meene meck, der Paragraph muß weg“, konnte sich keine mehr so recht begeistern. Stimmung dagegen bei der autonomen Berliner Szene, die die Demo wohl als eine Art Vorlauf und Einstimmung für ihre Aktivitäten der kommenden Tage betrachtete. Einige DDR-Linke demonstrierten Gesinnung, indem sie sich mit der Hammer-und-Zirkel-Fahne drapierten.

Während es auf der Demo noch recht locker zuging, war auf der Kundgebung selbst eher Pflichtprogramm angesagt: der Platz leerte sich zusehends, als ein Statement auf das nächste folgte (schließlich mußte jede Bündnispartnerin bedacht werden), aber keine der Rednerinnen es schaffte, das Publikum in ihren Bann zu ziehen. Zuvieles wurde verkündet, was in den letzten Monaten und Wochen nicht schon mehrfach beklagt worden wäre: die Vereinigung sei ein bloßer Anschluß, die demokratischen Traditionen des Herbstes würden mißachtet, die sozialen Rechte, besonders der Frauen, abgebaut. Die Machtgelüste einer „Hegemonialmacht“ Deutschland und die Zunahme von Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit befürchtete fast jede der Rednerinnen. „Ein Anfang ist gemacht“, erklärte Verena Krieger stolz: „Dies ist die erste gemeinsame Demonstration der Opposition aus Ost und West“. Aber wenn es denn so wäre — was diese Opposition zu bieten hat, außer der Klage über verpaßte Chancen, blieb unklar. „Dagegen zu sein, reicht nicht aus“, erklärte zwar auch Jutta Brabant von der Linken. Aber anstatt die politischen Ziele zu konkretisieren, kam sofort der Schwenker zur ominösen „Utopie“, die „in uns selbst wachsen“ müsse.