Das Ende der deutschen Hysterie

■ Plädoyer für eine öffentliche Aussprache/ Die Zeit der Einmischung in die eigenen Angelegenheiten ist gekommen KOMMENTAR

Im Jahre 1942 schrieb der Jurist und Historiker Istvan Bibo im abgelegenen ungarischen Szeged ein Werk, dessen Wirkung bis heute fortdauert — Die deutsche Hysterie. Er analysiert dort die Deformation des deutschen kollektiven Bewußtseins. Die Deutschen seien unfähig gewesen, die Hindernisse beiseite zu räumen, die der Begründung eines Nationalstaats unter der Führung der Bourgeoisie im Weg lagen und damit dem Entwicklungsweg der führenden europäischen Nationen zu folgen. Die Antwort auf dieses Versagen war eine Disposition zur kollektiven Hysterie, deren Symptome Inferioritätsgefühle und damit übersteigertes Selbstbewußtsein, mangelnde Wahrnehmung der wirklichen Kräfteverhältnisse und die fixe Idee waren, Opfer einer internationalen Verschwörung zu sein. Es war die „deutsche Hysterie“, die Hitler an die Macht und nicht nur den Deutschen die Katastrophe brachte.

Die Therapie dieser Neurose ist nach Meinung vieler Demokraten der Bundesrepublik in vier Jahrzehnten geglückt. Mit ihrer Wendung „zum Westen“ hätten sich die Bundesdeutschen demokratische Verfahrensweisen, ein Bewußtsein für die Bedeutung der Grundrechte und eine politische Kultur der Streitaustragung angeeignet. Nach dieser Auffassung hat sich das Problem der deutschen Identität aufgelöst. Die Deutschen fühlten sich heimisch in ihren lokalen und regionalen Milieus, im übrigen befürworteten sie eine supranationale Orientierung, sei es im europäischen Rahmen, sei es gegenüber den Aufgaben der Weltgesellschaft. Die wiederhergestellte deutsche Einheit gilt nach dieser Meinung als eine Bedrohung des erreichten Stands der Zivilisierung, zerrt sie doch universalistische Orientierungen auf das Niveau nationalstaatlicher Interessen zurück. Befürchtungen dieser Art gründen sich - oft unausgesprochen - auf die Sorge, die Bürger der ehemaligen DDR würden mit ihrer vordemokratischen Bewußtseinslage und ihren kraß aufs Wohlergehen beschränkten Wünschen die aufblühende „civil society“ in der BRD zertreten.

Gegenüber dieser idyllischen Beschreibung des Zustands der bundesrepublikanischen Verhältnisse wie gegenüber den laut gewordenen Befürchtungen sind ein paar Korrekturen angebracht. Gibt es tatsächlich eine Übereinstimmung im kollektiven Bewußtsein über die Geltung der Bürger- und mehr noch der Menschenrechte, ein Vertrauen der Bürger zueinander, daß sie ihre Konflikte friedlich und auf dem Weg des Kompromisses lösen werden, ein gegenseitiges „Versprechen“ der Bürger, das allein Grundlage des Verfassungsstaats sein kann? All diese Errungenschaften setzen öffentliche Aussprachen und deren kathartische Wirkung voraus. Aber sowenig es nach 1945 eine Auseinandersetzung über die Ursachen des Nazismus gegeben hat, so wenig die Zeit des Kalten Krieges Anlaß zur kritischen Reflexion war, so wenig gibt es öffentliches Nachdenken über die innerstaatlichen Feinderklärungen der 70er Jahre. Das Regierungsjahrzehnt der Sozialdemokratie mit seinem Ausbau der Unterdrückungsapparate und —weit schlimmer— mit seinen unheilvollen Polarisierungen wurde einfach verdrängt. Ist aber die militante Ausgrenzung der Asylsuchenden und Umsiedler heute nicht eine Fortsetzung dieses Polarisierungswahns?

Auch gegenüber der Qualität supranationaler und „universalistischer“ Orientierungen, die vor allem die Linke für sich in Anspruch nimmt, sind Zweifel angebracht. Oft entspringt diese Haltung einer Fluchtbewegung vor den nächstliegenden Aufgaben. Wieviele der sich fortschrittlich dünkenden EinwohnerInnen Westberlins haben es in der Vergangenheit für erforderlich gehalten, sich den Nöten der ostmitteleuropäischen Länder zuzuwenden, die Fragen zu bearbeiten, die sich aus der Ost-West-Migration und dem zukünftigen Status Deutschlands als Einwanderungsland ergeben? War es nicht so, daß viele von uns gerade in West-Berlin sich mit den Vorteilen einer Lage zufrieden gaben, die auf der anderen Seite der Mauer Not und Verzweiflung produzierte?

Es war diese Haltung, die in der Bewertung der demokratischen Revolutionen und Umbrüche in Ostmitteleuropa und der DDR zu schwerwiegenden Fehleinschätzungen führte. Als im Oktober und November letzten Jahres die Menschen in der DDR mit der Parole „Wir sind das Volk“ demokratisches Selbstbewußtsein unter Beweis stellten, beeilten sich viele Liebhaber der „civil society“, in diesen Manifestationen die Keimform einer neuen demokratischen Integration jenseits der bestehenden Systeme zu sehen. War die Bewegung in der DDR doch strikt gewaltlos, voll symbolischer Kreativität und funktionierte sie ohne charismatische Führer. Der Feier des Widerstands stand die Abwertung der ÜbersiedlerInnen gegenüber: Sie hätten den Konsum der harten Arbeit für ein solidarisches und freies Gemeinwesen geopfert.

Diese verächtliche Haltung unterschlug, daß diejenigen, die die DDR verließen, eine legitime, rationale Entscheidung trafen, daß sie für sich und ihre Kinder nicht nur die D—Mark, sondern auch eine alternative Lebensplanung in Anspruch nahmen, mochte diese auch von illusionären Annahmen ausgehen. Als „Wir sind ein Volk“ und das Votum für die schnelle Herstellung der deutschen Einheit obsiegten, war die Reaktion auf unserer Seite zuerst Trauer, dann Verachtung, schließlich Sprachlosigkeit gegenüber dem rasenden Zug zur deutschen Einheit.

Es wird Zeit, mit all dem Schluß zu machen. Die Deutschen haben jetzt die Gelegenheit, nüchtern ihre Stellung im europäischen Einigungsprozess gegenüber ihren östlichen Nachbarn und gegenüber der Weltgesellschaft zu bestimmen. Kein Hinweis auf die eingeschränkte Souveränität kann ihnen mehr zur Hilfe kommen. Sie müssen entscheiden, ob sie den Völkern Osteuropas und der Sowjetunion wirklich die Hand reichen wollen, wie man es dort von ihnen erhofft und erwartet. Sie müssen entscheiden, auf welche Weise sie diese Aufgabe in Übereinstimmung bringen wollen mit ihren Verpflichtungen Richtung Westen und Süden. Sie müssen entscheiden, ob sie im Innern einen Sozialvertrag wollen, der den Bedürfnissen der Bevölkerung in der ehemaligen DDR Rechnung trägt. Denn die erklärten wie unerklärten Abreden des bundesdeutschen Sozialstaats gelten jetzt nicht mehr. Sie müssen entscheiden, ob sie eine Gesellschaft wollen, die neue Formen des Klassenkampfes und des Konflikts erträgt und ausgleicht. Sie müssen entscheiden, ob all diese Zielsetzungen in einer neuen Verfassung niedergelegt werden sollen. All dies muß in öffentlicher Aussprache geschehen. Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit der Einmischung in die eigenen Angelegenheiten gekommen? Christian Semler