: Unterlassene Gesten
■ In den „Einheitsreden“ hatten die Ängste der Ausländer keinen Platz KOMMENTARE
In keiner der Politikerreden zum „Tag der Einheit“ durften sie fehlen, die Ängste der „ausländischen Nachbarn“ vor dem großen wiedervereinigten Deutschland, denen man selbstverständlich verantwortungsvoll und einfühlsam begegnen werde. Währenddessen keine Geste, kein Wort, ja nicht einmal ein Anflug von Nachdenken darüber, daß dieses Deutschland auch noch andere „ausländische Nachbarn“ hat — Nachbarn nicht in Gestalt von abstrakten Staatsgebilden, sondern von fast fünf Millionen konkreten Menschen, die als ImmigrantInnen, ausländische StudentInnen oder Flüchtlinge schon seit Jahren Tür an Tür bei uns leben. Daß ihre Ängste vor dem wiedervereinigten Deutschland, vor Ausgrenzung, rechtlicher Unsicherheit und Rassismus in den Feiertagsreden keinen Platz hatten — und wohl auch keinen haben sollten — ist nicht nur eine schlichte Unterlassung, sondern ein politisches Signal. Ein Signal, daß die Politiker diese Ängste der ausländischen Minderheiten nicht zur Kenntnis nehmen wollen und sie auch mehr denn je glauben, diese soziale Gruppe mit Ignoranz in die Isolation treiben zu können. Was AusländerInnen in der Bundesrepublik und in der DDR seit Monaten von unten spüren, die Festtagsredner bis hin zum Bundespräsidenten haben es ihnen am 3.0ktober von oben noch einmal um die Ohren gehauen.
Dabei wäre es so leicht gewesen, mit einigen Worten wenigstens ein Stück Problembewußtsein zu demonstrieren. Ein Satz hätte genügt, zu zeigen, daß das Scheibenklirren einiger türkischer Jugendlicher in Kreuzberg nicht nur als kriminelle Randale, sondern auch als politische Botschaft verstanden wurde. Doch nicht einmal der Gedanke, daß das neue Deutschland seine viel beschworene Verantwortung, Friedfertigkeit, Weltoffenheit und Sensibilität gegenüber den „ausländischen Nachbarn“ auch daran messen lassen muß, wie es mit seinen ausländischen Nachbarn im eigenen Lande umgeht, ist den Festrednern gekommen. Und das wohl auch aus gutem Grund: Denn ein vereinigtes Deutschland, das es bald geschafft haben wird, von seinem Territorium östlich der Elbe auch noch den letzten Nicht-Deutschen zu verdrängen, ein Deutschland, das sich an seinen Grenzen hermetisch gegen jeglichen Zuzug von Armutsflüchtlingen abriegelt und das im Vorgriff auf die Einheit ein restriktives Ausländergesetz verabschiedet hat, ein Deutschland, in dem eine Beinahe-Allparteien- Koalition das Asylrecht zur Disposition stellt und sowjetischen Juden die weitere Einreise verweigert, ein Deutschland, dessen politische Vertreter in den letzten Monaten nicht mit einem einzigen Wort nationalistische und rassistische Äußerungen seiner Bürger in die Schranken gewiesen haben — ist wahrlich nicht gerade ein vertraueneinflößender und vor Glaubwürdigkeit nur so strotzender Nachbar. Vera Gaserow
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