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Das Proletariat hat eine neue Hymne

Das neue Deutschland hat auch die Werktätigen infiziert/ Gewerkschaftlich engagierte Chöre auf der Suche nach einer Alternativhymne/ Brechts „Kinderhymne“ zur Musik von Beethovens „Ode an die Freude“ soll der neue Renner werden  ■ Aus Sprockhövel B. Markmeyer

In Berlin sang Wolf Biermann sie am Abend der großen Vereinigung zur Musik von Hanns Eisler. In Nairobi stritten die circa 3.000 in der kenianischen Hauptstadt lebenden Deutschen um ihre Aufführung beim Vereinigungs-Festakt in einer Turnhalle. Antje Vollmer und Walter Jens oder Martin Walser schlagen sie als Lied für das neue Deutschland vor. Und in Sprockhövel wird sie an diesem Samstag intoniert und aufgezeichnet: die Kinderhymne von Bertolt Brecht. Sprockhövel liegt im südlichen Ruhrgebiet, gleich angrenzend an die ehemalige Stahlstadt Hattingen, deren BewohnerInnen sich mit ihrem Kampf um die Henrichshütte einen Namen machten. Am Rande von Sprockhövel betreibt die IG Metall ein riesiges Weiterbildungszentrum, eine Bildungsfabrik, gegen die sich eine normale Gesamtschule wie das Teehäuschen im Garten einer Villa ausnimmt. Hier im großen Saal, in den keine störenden Geräusche von außen dringen können, wollen SängerInnen aller gewerkschaftlich engagierten Chöre in Nordrhein-Westfalen und ein 15köpfiges Orchester heute mit dem „Projekt Kinderhymne“ an den Start gehen. Denn wenn die Aufnahme am Samstag abend im Kasten ist, geht die Verbreitung einer Idee erst los.

Jutta Hüffelmann, Mitglied im Chor Kölner GewerkschafterInnen, kam die Idee nicht selbst, aber bei ihr sprang der Funke über. Der Hamburger Musikwissenschaftler Peter Petersen hatte in der Diskussion um Namen, Feiertag und Hymne für die neue deutsche Phase, die die Hamburger 'Zeit‘ im Sommer anzettelte, zum Thema Hymne vorgeschlagen, Brechts 1949 geschriebenen Text zu Beethovens Melodie der Ode an die Freude zu singen. „Die Kinderhymne“, so Petersen, „läßt sich so makellos auf die Freuden-Melodie singen, als hätte Brecht bei der Abfassung des Gedichts an diesen ,Klangleib‘ für seine Worte gedacht.“ Hans Eisler vertonte die Kinderhymne bereits 1950/51 und zitierte in seiner Komposition Fragmente aus den beiden deutschen Nationalhymnen. Die Eislersche Vertonung ist aber wenig einprägsam und damit massenwirksam. Beethovens Ode an die Freude — die übrigens schon in instrumentaler Fassung zur Europahymne bestimmt wurde — scheint den VerfechterInnen der Alternativ-Hymne deshalb als geeignete Lösung.

Jutta Hüffelmann, seit vielen Jahren den mitsingenden KollegInnen in ganz NRW vertraut, wollte die unpathetische Alternative zum millionenfach gegröhlten „Einichei un Rech und Freihei“ hörbar machen: „Wenn wir nur laut über eine andere Nationalhymne nachdenken, haben wir keine Chance. Wir müssen was in der Hand haben.“ Am besten eine Platte. Und so wird denn in Sprockhövel eine Single — zunächst in der bescheidenen Auflage von 2.000 Stück — entstehen.

Musikalisch möglich gemacht hat das Unternehmen der Berliner Musikwissenschaftler und Komponist Hartmut Fladt. Er schrieb die Partitur für Chor und Orchester, leitete die Aufnahme und bekam — er hat schon mehrfach Brecht-Texte vertont — die Rechte auf die Kinderhymne von der Brecht-Erbin, Barbara Brecht-Schall. Er meint, Brecht habe tatsächlich bei der Niederschrift seiner Kinderhymne an Beethovens Musik gedacht. Mit der Vorbereitungsgruppe diskutierte Fladt in dieser Woche innerhalb eines, von der IGM regelmäßig veranstalteten, Kulturseminars über Sinn und Unsinn von Hymnen, Geschichte und Musik. Neue Zeiten, neue Themen: GewerkschafterInnen beim Studium nationaler Symbole.

So ist denn auch bei manchen TeilnehmerInnen verhohlene Scham ob des neuen Gegenstandes zu spüren. Er brauche gar keine Nationalhymne, erklärt Hartmut Donath aus Paderborn. Donath gehört zu denen, die nicht singen, sondern sich anderweitig am Projekt beteiligen. Für die, die selbst in einem Chor engagiert sind, ergibt sich die Auseinandersetzung mit der Hymne selbstverständlicher. Hüffelmann und Annegret Keller, die Leiterin des Rheinhausener Chors „Tor 1“, haben die Kinderhymne bereits in ihrem Repertoire. „Obwohl die meisten Leute meinen, es sei eine Illusion, daß das unsere Nationalhymne werden könnte, fängt doch immer gleich eine Debatte an, wenn wir irgendwo die Kinderhymne singen“, sagt Jutta Hüffelmann. Und die jetzige Hymne einfach fürs zukünftige Deutschland übernehmen, wolle sie eben nicht. Nun am 3. Oktober zwischen Brandenburger Tor und Reichstag ist die Frage fürs erste entschieden worden.

So findet Hartmut Donath, als es um die Gestaltung der Schallplatten- Hülle geht, denn auch auf seine Weise wieder auf den Boden deutscher Realitäten zurück. Zu Hymne fiele ihm immer nur Flagge ein, witzelt er und zur deutschen Fahne gleich eine Piratenfahne.

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