Von der Ermordung unserer Enkel

Die Zeit vermindert den Wert der Welt (Horaz)

...welche Unordnung, in der natürlichen Grazie des Menschen das Bewußtsein anrichtet. (Kleist)

Unumkehrbar ist der Fluß der Zeit, unaufhaltsam die Vernichtung verfügbarer Energie, die Zunahme von Entropie. Gutes wird schlecht, Brauchbares wird unbrauchbar, Qualität wird Quantität, und Ordnung wird Chaos — in immer kürzerer Zeit!

Wir bemerken die totbringende Geschwindigkeit nicht, wollen sie nicht bemerken, von wenigen Ausnahmen abgesehen. Unser Wahrnehmungsapparat gleicht noch immer dem der Neandertaler. Das Tempo des Entropiewachstums ist das Instrument, mit dem wir uns umbringen.

Die Energie, die US-Amerikaner in einer einzigen Stunde (1985, im Tagesdurchschnitt) verschwenden, entspricht dem Energieverbrauch der gesamten Weltbevölkerung für 80 Jahre zur Zeit der Sumerer (3.000 v.Chr.). Zu keiner Zeit war die Propaganda für mehr Wachstum, mehr Konsum, so laut und erfolgreich, wie heute. Von nie dagewesenem Wohlstand für alle wird geredet, von einer blühenden Zukunft, grenzenloser Freiheit!

Es gibt keine Jahreszeiten mehr. Die Schulden, nicht nur der Entwicklungsländer, steigen unaufhaltsam. Immer mehr Menschen wissen immer weniger. Computer kommunizieren mit Computern. Für einen Renoir werden fast 100 Millionen Dollar bezahlt. Genmanipulationen erhöhen den IQ. Extremsportarten, vor zehn Jahren noch unbekannt, werden zum Wirtschaftsfaktor; Springer am Gummiband hängend, stürzen sich vom Torontoturm oder den Steilfelsen im Süden Neuseelands. Gespeichertes Wissen auf Magnetbändern und in Bibliotheken ist für die breite Bevölkerung nicht mehr erreichbar. Osteuropas Planwirtschaft kollabiert, das sowjetische Riesenreich zerbricht. Bei Jugendlichen (1990, in der Bundesrepublik) zwischen 16 und 20 Jahren avanciert der Selbstmord nach den Verkehrsunfällen zur zweithäufigsten Todesursache. Das Analphabetentum breitet sich seuchenartig aus. Verrohung und Kriminalität steigen ständig. Gangster beherrschen Regierungen, kontrollieren Schlüsselindustrien. Erstickungsanfälle (Pseudokrupp) bei kleinen Kindern haben dramatisch zugenommen.

Die größten Schufte werden beklatscht und bewundert, wenn sie ihre Verbrechen innerhalb gewisser Grenzen und Spielregeln begehen. [...] Ostberliner Neonazis provozieren die Volkspolizei.

Eine Milliarden-Dollar-Industrie produziert Horrorvideos für Kinder. Barfußkletterer besteigen Wolkenkratzer. Packeis und Gletscher schmelzen. Diskolärm, nahe der Schmerzschwelle, wird als Lustgefühl empfunden. „Überlebenskünstler“ durchqueren zu Fuß die Antarktis. Die Slums der Riesenstädte gleichen Krebsgeschüren. Bevor ein Durchschnittsamerikaner 30 Jahre alt ist, hat er eine Million Werbespots gesehen. Helmut Kohl wird zum Großkohl. [...]

Leihmütter vermieten ihre Bäuche. Eine Kunstmafia beherrscht die Bilderszene (lärmende Nichtigkeiten auf riesigen Formaten) rund um den Erdball. Der heutige Tourismus ist vergleichbar mit der Pest des Mittelalters, über 50 Millionen Deutsche werden in diesem Jahr zu Lande, zu Wasser und in der Luft unterwegs sein. Offiziersmützen von Rotarmisten kosten auf dem Polenmarkt in Berlin zehn Mark. Noch nie waren Kameras und Filmmaterial so gut, Vergrößerungen so schlecht. Ein Zeitungskiosk in Köln hat ständig 8.000 verschiedene Zeitungen und Zeitschriften vorrätig. [...] Stasi-Chef Mielke rechtfertigt sich mit den Worten: „Ich liebe Euch doch alle!“

Konsum wird zum Zwang, zum Terror. Die optimistischen Lobreden werden lauter und lauter. Börsenkurse steigen und fallen mit nie dagewesener Schnelligkeit. Rockstars erbrechen Sprachbrocken. Der Jugendlichkeitswahn diskriminiert Kinder und Greise. Gorbatschows Perestroika ist in Wirklichkeit ein Offenbarungseid — die Leidensfähigkeit des russischen Volkes ist erschöpft. Für Wessis und Ossis ist das Auto Potenzverstärker Nummer 1, 100 Kilometer Stau auf Autobahnen werden positiv erlebt. Der Stopp auf Staustrecken wird zum Urlaubsspaß, Mobilmania! Ordentlich verkabelt kann der Bundesbürger immer mehr Fernsehprogramme empfangen — mit immer schlechteren Beiträgen. Elektronische Kinkerlitzchen, fliegende Buchstaben, Bildverzerrungen, gelten als kreativ. Marathonläufer hecheln alljährlich durch abgasverpestete Millionenstädte, außer Atem, schweißtriefend und bepißt berichten sie von einem Glücksgefühl, schöner als ein Orgasmus. Berge und Flüsse werden zu Teilen einer Kunstlandschaft. Unebenheiten werden begradigt. Der „freie“ Sex in unserer Gesellschaft ist zu einer Ware, einer menschenfeindlichen, unerotischen Bumsmechanik verkommen. Drei Viertel der Weltbevölkerung ist schon heute absolut chancenlos, ihr Leben ist würdelos wie in einem Straflager. Die Sprache der Fernseh- und Rundfunkmoderatoren wird zunehmend schnoddriger, dreiste Verallgemeinerungen gelten als zuschauernah — Sprachmüll rund um die Uhr.

[...] Gigantische Medienshows und Rockkonzerte (The Wall 1990 in Berlin: Kosten der Zwei-Stunden- Aufführung acht Millionen Dollar) werden zu Ersatzgottesdiensten, gaukeln Daseinsglück vor. Riesige Überschwemmungen wechseln mit Hitzewellen und Waldbränden, Wüsten werden stündlich größer. Tugenden, Jahrhunderte höchstens Gut, werden lächerlich gemacht. Bescheidenheit gilt als Schwäche, Treue als Dummheit, Demut als Fehlverhalten, und Sparsamkeit wird bestraft. Entwurzelung und Völkerwanderungen nie gekannten Ausmaßes haben eingesetzt. Disney- Welten haben Hochkonjunktur. Das Gerede vom Frieden, die „sozialistischen“ Lügen haben sich zur PerestroIka-Lüge gewandelt, nach dem Vorbild der Profis, den „kapitalistischen“ Lügnern. Es gibt Großstadtkinder, die noch nie die Sterne gesehen haben. Roland Schubert, Berlin 61