Kulturkampf um Berlin

Adenauers Geist schwebt durch Bonner Bürokratennischen/ Ist Berlin „falsch zentriert“, zu weit im Osten, zu preußisch-protestantisch?  ■ Von Tilman Fichter

Berlin hat, wenn man den in den diversen Staatskanzleien der Bundesländer weitverbreiteten antiberlinerischen Vorurteilen glauben darf, stellvertretend für die Westdeutschen den Zweiten Weltkrieg verloren. In dieser Geschichtsverkürzung verkörpert Bonn „gerade den Gegensatz“ — so jüngst ein Pamphlet der Bonner CDU zu den letzten NRW- Landtagswahlen — „zu einem Deutschland, das in kolossaler Überhöhung die Schönheit Goethes verdunkelte“. Die politisch-intellektuelle Struktur der Stadt Bonn sei demgegenüber ganz offensichtlich weniger geeignet, „hegemoniale oder imperialistische oder nationalistische Tendenzen zu fördern“.

Dieses Flugblatt ist durchaus nicht untypisch für die im rheinischen CDU-Milieu nach wie vor vorherrschende „Los-von-Berlin-Stimmung“. Denn Bonn war und ist für die den Bruchstücken katholische Zentrums- und Kulturkampftraditionen noch immer verhafteten Unionspolitikern letztlich so etwas wie eine späte Rache für die Annektion Westfalens und der Rheinlande durch Preußen im Jahre 1815. Allerdings vertritt heutzutage auch so mancher rheinische SPD-Landespolitiker beziehungsweise Bonner Lokalmatador ähnliche provinzielle Ansichten.

Sündenbockfunktion im westdeutschen Teilstaat

Im westdeutschen Nachkriegsteilstaat erfüllte die ehemalige Reichshauptstadt Berlin in großen Teilen der bundesrepublikanischen Machteliten nicht zuletzt deshalb, weil sie den preußischen Zentralismus repräsentierte, eine Sündenbockfunktion: Die autoritären Traditionen in der neueren deutschen Geschichte wurden hier lokalisiert. Das „politische Schwergewicht“ Deutschlands sollte deshalb künftig — so schrieb etwa Konrad Adenauer in einem privaten Brief am 7.Februar 1946 an den damaligen CSU-Oberbürgermeister von München, Karl Scharnagel — selbst dann, „wenn Berlin nicht vom Russen besetzt wäre“, von dort fortverlegt werden.

Der CDU-Staatssekretär in der Hessischen Staatskanzlei, Alexander Gauland, führte jüngst diese katholisch-konservativen Vorbehalte gegen Berlin erneut ins Feld, als er in der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung‘ vom 27.März 1990 unter anderem schrieb: „Wir haben zur Kenntnis zu nehmen, daß es eine Spaltung Europas gibt, eine Spaltung zwischen dem römischen und dem nicht- römischen Teil unseres Kontinents. Rom, London, Paris, Dublin und Washington sind einander viel näher als jede dieser Städte zu Berlin oder Warschau.

Der alte Stechlin blickte nach Osten, nach Rußland, nicht nach Westen. Daran haben auch Kant und Humboldt nichts ändern können.“ Gaulands Kulturkampfpolemik gegen Berlin erinnert an eine Kontroverse aus dem Jahr 1929 zwischen Heinrich Mann und dem katholisch- bayerischen Schriftsteller Wilhelm Hausenstein.

Während Berlin für Heinrich Mann ein „Zivilisationsherd“ war, verkörperte die Industrie- und Kulturmetropole Berlin für Hausenstein das protestantisch geprägte Bismarcksche kleindeutsche Reich, das zum „heillosen wilhelminischen fin de siècle“ geführt habe. Als Hauptstadt eines demokratischen Deutschlands sei Berlin zu nordöstlich, also „falsch zentriert“. Berlin verkörpert für Alexander Gauland und Wilhelm Hausenstein das glatte Gegenteil von Kleinstaatlerei, rheinischer Idylle und einem „,Stammheim‘ für den Geist“. (John Vinocur)

Die Metropole Berlin ist seit dem Ende des 19.Jahrhunderts immer wieder Zielscheibe provinzieller Großstadt- und Zivilisationskritik gewesen. Obwohl nach 1918 Zentrum republikanischer Kultur und urbaner Lebensformen, wurde Berlin auch in der Bundesrepublik nach 1949 fälschlich immer wieder als Hauptstadt der bösen Deutschen (Bismarck, Wilhelm II., Hitler, Ulbricht, Honecker, Krenz) stigmatisiert.

Tatsächlich hatten die Nazis aber bei der letzten freien Reichstagswahl am 6.November 1932 in Berlin nur ganze 22,5 Prozent und bei der Reichstagswahl am 5.März 1933 — trotz des offenen Bürgerkriegsterrors der SA — nur 31,3 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können (lediglich der vorwiegend katholisch geprägte Reichstagswahlkreis 20, Köln-Aachen, hatte mit 31,1 Prozent ein für die NSDAP noch schlechteres Wahlergebnis).

Die braune Provinz hatte also im verhaßten „Zivilisationsherd“ parlamentarisch nie gesiegt. Dennoch hat der totale Willkür- und Ausnahmestaat der Hitleristen 1933 vor den Toren Berlins nicht haltgemacht. Wer aber glaubt, Berlin sei schließlich zur befriedeten Reichshauptstadt „Germania“ geworden, irrt. Denn Berlin war zugleich immer auch die Hauptstadt des proletarischen, später auch des bürgerlich-konservativen und militärischen Widerstandes.

Die Geschichte der 4,3-Millionen-Stadt war nach 1933 immer auch eine Geschichte des Überlebens. In keiner deutschen beziehungsweise österreichischen Großstadt wurden so viele Juden von der Bevölkerung versteckt und gerettet wie hier. In Berlin existiert heute übrigens wieder — neben Frankfurt — eine aktive jüdische Gemeinde, deren kulturell- religiöse Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinausreicht. Und wenn die Bürokratie im Bonner Innenministerium die Einwanderung russischer Juden nicht blockiert, dann ist absehbar, daß das jüdische Leben in Berlin noch weiter gestärkt wird.

Die alte neue Metropole wächst wieder zusammen

Im Inferno der Bombennächte des Zweiten Weltkrieges ging dieses vielschichtige Stadtgebilde unter. Die neuen Bauherren in der durch den kalten Krieg gespaltenen Metropole setzten dann alles daran, die Spuren der jüngsten Geschichte durch Kahlschlagsanierung und Beton zu verwischen. Die Schlagworte lauteten jetzt: „Auto-gerechte Stadt“ und „Desurbanisierung“. Die Forschungs- und Verwaltungszentren der Industriekonzerne verlagerten sich zunehmend nach Westdeutschland.

Seit dem 9.November 1989 ist freilich alles anders. Das alte neue Berlin mit seinen 2,1 Millionen Menschen im Westen und 1,3 Millionen im Osten wächst erneut zusammen. Die 3,4-Millionen-Stadt wird wieder eine Metropole, ob mit oder ohne Hauptstadtattribute. Doch die sozialen Probleme in der durch Stalinismus und Spaltung gezeichneten Stadt lassen sich zumindest kurzfristig — darauf hat der regierende Bürgermeister Walter Momper zu Recht hingewiesen — in einer Hauptstadt, die zugleich Regierungs- und Parlamentssitz ist, sicher humaner gestalten.

Berlin ist immer ein Schnittpunkt verschiedener Einflußsphären. Es ist ein „europäisches Chicago“ (Mark Twain) und ein westliches Moskau zugleich, von alten gesellschaftlichen Strukturen und Vorurteilen umzingelt. Gegen tradierte großstadtfeindliche Einstellungen und landesspezifischen Egoismus hilft offensichtlich auch keine Aufklärung à la Richard Weizsäcker oder Willy Brandt. Das neuvereinigte Deutschland ist vielmehr auch in dieser Frage kulturell tief gespalten.

Letztlich hat der Streit über die zukünftige Hauptstadt aber eine Stellvertreterfunktion. Denn tatsächlich stünde ein partei- und generationsübergreifender Dialog auf der Tagesordnung, eine Auseinandersetzung über den zukünftigen Charakter Deutschlands als Teil eines friedlichen neuvereinigten Europas jenseits von regionaler Massenarbeitslosigkeit, neuer Armut, Müllnotstand und Manipulation von Öffentlichkeit. Da aber jede Verfassungsdebatte, der im Artikel 146 GG für den Fall einer Neuvereinigung vorgesehen ist, von der Bonner Regierungskoalition abgelehnt wird, kommt dieser Diskurs nicht zustande.

Legitimationskrise der politischen Eliten

Die Rückkehr der Massen in die mitteleuropäische Politik ist seit den Arbeiterstreiks in Polen Anfang der achtziger Jahre und den Montagsdemonstrationen in Leipzig 1989 unaufhaltbar; und während die politische Klasse in der Ex-DDR am Boden zerstört liegt, bangt die politische Klasse in der Noch-BRD um ihren Einfluß.

Immer offener regiert in Bonn die mausgraue Ministerialbürokratie; Bundes- und Länderverwaltungen planen seit Monaten — zumindest auf dem politischen Terrain, nicht so sehr auf dem ökonomischen Feld — die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten en detail. Die Parlamentarier im Deutschen Bundestag beziehungsweise in der Volkskammer durften die diversen Staatsvertragsentwürfe der Bürokratie dann nur noch annehmen oder ablehnen. Der drastische Machtverlust der Parlamentarier ist zugleich auch die Stunde der Exekutive. Der deutsch-preußische Beamtenstaat in Bonn läßt grüßen.

Die Erklärung für diesen dramatischen Machtverlust der Parlamentarier ist eindeutig: Die politische Klasse in der Bundesrepublik setzte in den achtziger Jahren verstärkt auf eine möglichst reibungslose Zusammenarbeit mit der DDR-Staatsführung und übersah dabei so gut wie alle Anzeichen für eine vorrevolutionäre Konstellation in Ost- und Mitteleuropa.

Von dem von Willy Brandt und Egon Bahr einst anvisierten dialektischen Prozeß der Koexistenzpolitik von Annäherung und Abgrenzung blieb in den achtziger Jahren nur noch die Politik der Annäherung übrig. Die ursprünglich beabsichtigte komplexe Dialektik der Friedens- und Entspannungspolitik erstarrte so immer mehr zur Metternichschen Status-quo-Politik. Solidarność- Streikaktionen oder gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen DDR-Bürgerrechtlern und Stasi- Schlägern wurden in Bonn häufig nur noch als Störfaktoren für die gemeinsame deutsch-deutsche Status-quo- Politik registriert.

Noch im Juni 1987 räumte das SPD-Präsidium in dem von der Grundwertekommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED erarbeiteten Text über den „Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“ ein, beide Gesellschaftssysteme seien reformfähig. Zu diesem Zeitpunkt war das SED-Regime indessen zu durchgreifenden wirtschaftlichen Reformen längst nicht mehr imstande; denn der „real existierende Sozialismus“ (SED-Jargon) lebte (ungefähr seit Anfang der siebziger Jahre) weitgehend von der ökonomischen Substanz der untergegangenen bürgerlichen Gesellschaft.

Auch wenn die CDU/CSU Zeitpunkt und Sprache des SPD/SED- Dialogpapiers kritisierte, so hatte doch auch sie — das zeigte ihre damalige alltägliche Deutschlandpolitik — längst ihren inneren Frieden mit der SED-Staatsführung gemacht. Bereits im Dezember 1983 hatte der bayerische CSU-Chef F.J. Strauß in einem Aufsatz der US-Fachzeitschrift für außenpolitische Fragen 'Foreign Policy‘ für den Abschluß von Friedensverträgen mit beiden deutschen Nachkriegsteilstaaten plädiert; insofern konnte der Milliardenkredit, den Strauß ungefähr zur selben Zeit für die DDR-Regierung eingefädelt hatte, nur noch schlecht informierte CSU-Hinterbänkler wie Ekkehard Voigt und Franz Handlos überraschen.

Seit damals regierte denn auch im Bonner Konrad-Adenauer-Haus beziehungsweise in der Münchner CSU-Zentrale in der Nymphenburger Straße Graf Clemens Wenzel Metternich — übrigens ein guter alter Bekannter des ersten Bundeskanzlers Konrad Adenauer — mit. Alles, was real war, wurde im Bonn der achtziger Jahre gerechtfertigt. Dieses Legimationsdenken (links wie Mitte-rechts) machte die Bonner Parlamentarier zunehmend blind für den vorrevolutionären Alltag der Menschenrechts- und Demokratiebewegung in Polen, Ungarn, der CSFR und DDR.

In der DDR hat sich inzwischen sogar die führende „Kraft der Arbeiterklasse“ (jahrzehntealter SED-Jargon) verschämt umbenannt. Aus der marxistisch-leninistischen Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) wurde — sozusagen über Nacht — die völlig neu inszenierte Gysi-Partei mit einem an die Politsprache des Godesberger Programms erinnernden neuen Etikett „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS).

Der Kampf um Begriff und Parteibezeichnungen ersetzt freilich keinen gesellschaftlichen Neubeginn. Denn im November 1989 hätte eigentlich die Selbstauflösung der SED angestanden. Eine neugegründete reformkommunistische Partei, die nicht die Rechtsnachfolge der SED angetreten hätte, würde der Demokratie in Deutschland nicht schaden.

Das zentrale Problem in der Ex- DDR beziehungsweise Noch-BRD ist gegenwärtig ein realistisches (daß heißt finanzierbares) Umbauprogramm für eine ökologisch verträgliche Reindustrialisierung der Ex- DDR. Denn eine radikale Demokratisierung — und darum geht es jetzt — setzt zumindest ähnliche ökonomische Chancen für die beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften voraus.

Wer also den Prozeß der deutschen Einigung tatsächlich voranbringen will, muß auch das ökonomische und soziale Gefälle ausgleichen. Daß dies für die westdeutschen Steuerzahler kein Faß ohne Boden sein muß, läßt schon die hohe Qualifikation der DDR-Beschäftigten vermuten. Ein erster Schritt wäre, daß die in dieser Qualifikationsstruktur liegenden Möglichkeiten für einen Neubeginn in der Produktion genau analysiert würden.

Diese Chance für einen deutschen Neubeginn wird jedoch im Treibhaus Bonn kaum wahrgenommen, denn hier in der rheinischen Flußlandschaft haben längst die mehr oder minder routinierten Bürokraten (sie selber bezeichnen sich freilich lieber als Profis) das letzte Wort. Ein großer Teil von ihnen hat sich längst aus persönlichen Gründen für Bonn als ewige Hauptstadt Deutschlands entschieden.

Entscheidung wieder mal ohne das Volk?

Und obwohl die Mehrheit der Deutschen laut einer Umfrage des „Sample-Instituts“ sich kürzlich für Berlin als Hauptstadt ausgesprochen haben (61 Prozent der BundesrepublikanerInnen und 81 Prozent der BewohnerInnen der Ex-DDR), forderten die Ministerpräsidenten von Nordrhein- Westfalen und Hessen am 29.August 1990, daß Bonn als Parlaments- und Regierungssitz beizubehalten und Berlin lediglich die Rolle einer „repräsentativen Hauptstadt“ als Sitz des Bundespräsidenten zugedacht sei.

Die Behörden in Düsseldorf und Wiesbaden wollen die Entscheidung über die zukünftige Hauptstadt auf keinen Fall der Bevölkerung überlassen. Die Option für Bonn soll deshalb jetzt im vorparlamentarischen Raum (im Verwirrspiel der Landes- und Bundesbehörde) festgezurrt werden.

Der amerikanische Journalist John Vinocur faßte seine Bonner Erfahrungen kürzlich in der 'Zeit‘ mit folgenden launisch-zynischen Worten zusammen: „Keine Aufregung, keine Nutten, keine Scotts und Zeldas, keine Schriftsteller, keine Maler, kein schnellverdientes Geld.“ Ich würde noch hinzufügen: Im Bonner Abseits trifft der Volksvertreter fast nie auf ArbeiterInnen (es sei denn als TouristInnen), er trifft hier auch nur äußerst selten auf Ingenieure, Chemiker, Biologen oder Physiker, dafür um so häufiger auf Lobbyisten und nichtseßhafte Berber. Kurzum: Bonn ist der falsche Ort, um über eine Scharnierfunktion Deutschlands zwischen Ost- und Westeuropa neu nachzudenken.

Deutschland „muß sich für das Abendland entscheiden“

Es ist jedoch zu erwarten, daß die Bonner Klientel ihre Interessen durchsetzt. Ein neuer Kulturkampf in Deutschland wäre die Konsequenz. Denn der Bonner Streit steht — so das 'Hamburger Abendblatt‘ am 28.August 1990 — „sinnbildlich für alte deutsche Gegensätze“. In dieser Auseinandersetzung prallen der „protestantische Norden und der katholische Süden, preußische Toleranz und klerikales Dogma“ hart aufeinander.

Wie formuliert der christdemokratische Schöngeist aus der Wiesbadener Staatskanzlei, Alexander Gauland, erst kürzlich? „Das neue Deutschland muß Teil Westeuropas werden.“ Denn die ehemalige DDR sei das „Land Martin Luthers“ und den Prinzipien der protestantischen deutschen Innerlichkeit verpflichtet. Das neuvereinigte Deutschland müsse sich jedoch eindeutig für das Abendland entscheiden: „Die Oder- Neiße-Grenze bietet dafür auch Chancen, denn mit dem Verlust von Landschaften, die nie Teil der römischen Weltkultur waren, wird sich der geistige Schwerpunkt des neuen Deutschland nicht wieder nach Osten verlagern (...).“

Die Argumente und Gegenargumente liegen also auf dem Tisch. Der Streit um die Hauptstadt verwischt m.E. nur die alternativen Entscheidungsmöglichkeiten. Wird das neuvereinigte Deutschland sich als Brücke zwischen Westeuropa und den sich entstalinisierenden Kulturen und Länder in Ost-, Südost- und Mitteleuropa verstehen, oder begnügt sich unser 80-Millionen-Volk mit der Rolle eines östlichsten Bollwerks in einem nach wie vor aufgespaltenen Europa?

Ist aber in Bonn ein Denken über die alten Blockgrenzen hinaus überhaupt möglich? So gesehen, ist die Hauptstadtfrage auch eine Frage nach einem Ort, wo sich unterschiedliche Realitäten im Nachkriegseuropa treffen können, ihre Erfahrungen miteinander austauschen und sich gegenseitig zu respektieren lernen. Für welche zukünftige neue Hauptstadt sich die Deutschen letztlich entscheiden werden, ist augenblicklich noch unklar.

Doch eines darf auf keinen Fall passieren: daß die Behörden in Bonn, Düsseldorf und Wiesbaden dem Volk die Entscheidung wieder einmal abnehmen. Laßt uns daher über den Kern der Sache, daß heißt über den zukünftigen Charakter des zusammenwachsenden Europas, die Geschwindigkeit dieses Wandels und die Chancen für eine demokratische und zivilisatorische Modernität jenseits von Manchester-Kapitalismus, stalinistischer Kommandowirtschaft und bundesrepublikanischer Wegwerfmentalität laut nachdenken.

Tilman Fichter lebt in Berlin-Charlottenburg und arbeitet als Referent für Schulung und Bildung beim Parteivorstand der SPD in Bonn. Dieser hier gekürzt abgedruckte Essay wird im November-Heft von 'Ästhetik und Kommunikation‘ (im Klartext-Verlag, Essen) erscheinen.