Politik und Niedertracht

■ Steckels Bochumer Inszenierung von Shakespeares „Timon aus Athen“

Timon hat die Menschen hinter sich gelassen, doch loswerden wird er sie nie. Denn auch dort, im Wald, vor den Toren Athens, wo er sich seinen Haß gegen alle Kreaturen in die Wildnis hinausschreit, holen sie ihn ein — diejenigen, denen er etwas bedeutet hat und die immer noch zu ihm stehen: sein Diener Flavius und ein Maler und ein Dichter, zwei Vertreter der schönen Künste, die seine Nähe suchten, ohne dabei sofort an Timons Reichtum und eine fürstliche Entlohnung zu denken.

Doch aus der Verbitterung, die Timon so blind macht, daß er selbst seine wahren Freunde nicht zu erkennen vermag, gibt es keine Befreiung. Timon stirbt vereinsamt und voller Gram — ein Misanthrop, den der Haß gegen die Menschen innerlich zerfressen hat, weil selbst seine tierähnliche Lebensweise ihm nicht über die nagende Gewißheit des eigenen Menschseins hinweghilft.

Daß Timon haßt, wie er haßt, ist seiner Großzügigkeit zuzuschreiben und der Undankbarkeit der anderen. Als angesehener Bürger von Athen überhäufte er die Gäste seines Hauses mit Geschenken, in der Hoffnung, aus der gutgemeinten Geste würde eine dauerhafte Freundschaft entstehen. Aber schließlich bringen die Freunde selbst das allernotwendigste Quentchen Anstand, nämlich Timon zu helfen, als er in finanzielle Bedrängnis gerät, nicht mehr auf. William Shakespeare beläßt es in seinem Spätwerk „Timon aus Athen“ — selten gespielt und deshalb fast vergessen — nicht bei der einfachen Gegenüberstellung von Edelmut und Geiz. Für ihn hat die wissentliche Verleugnung der Freundschaft und der sich daraus ergebenen Verpflichtungen eine wesentliche Ursache. Die läßt er von einem Fremden erklären, wohl deshalb, weil nur der Außenstehende noch unbestechlich zu wirken vermag: „Das Mitleid wird der Mensch verlernen müssen, denn Politik geht heute vor Gewissen.“

Was bei Shakespeare schon plakativ genug klingen mag, wird von Frank-Patrick Steckel begierig aufgegriffen und noch offensichtlicher angelegt. Ein Intendant und die Politik. Es scheint, als habe Steckel für die Bochumer Inszenierung die wenigen Textpassagen, die den Zusammenhang zwischen Niedertracht und Politik herstellen, mit besonderer Liebe behandelt, denn nur dort, wo es direkt artikuliert wird, scheint ein wenig von Steckels Absicht durch, der seine Inszenierung als Kommentar zur Wiedervereinigung verstanden wissen will. Aber wie so oft verhält es sich auch hier mit der politischen Funktionalisierung des Theaters: die politische Komponente ist so universell, daß man daraus alles lesen kann — auch einen Verweis auf die Vereinigung. Ebensogut ließe sich damit die Golfkrise herbeizitieren oder das alte Spiel vom Nehmen und Geben im Nord-Süd-Gefälle. Aber davon will heutzutage niemand was hören.

Nun ja, man mag Steckels innigen Wunsch erhören und jedes gesprochene Wort drehen und wenden und auf seine Tauglichkeit zur Kommentierung des vereinten Deutschlands prüfen, zuerst aber bleibt Shakespeares „Timon aus Athen“ ein Stück über den Verfall der Moral. Stationen also des Scheiterns eines Idealisten, das Scheitern aber auch eines Naiven, der die Zeichen der Zeit übersehen hat.

Frank-Patrick Steckel hat sich dazu von Dieter Hacker eine Bühne bauen lassen, die nur Maske ist — eine Schablone, die zu allem taugt, sei es, um Timons Wald zu imaginieren, das Vestibül oder das Schlachtfeld vor den Toren von Athen. Nur eine weite, leere Bühne, die nach hinten wie eine Rampe ansteigt, mehr nicht. Aber die Schlichtheit korrespondiert mit den monströsen Kostümen der Schauspieler, denn auch die sind nur Masken, unbewegte Fratzen ihrer Klasse. Die Diener grau, mit Anzugjacke und Rock, der jede ihrer Bewegungen einschränkt, die Herren schrill und bunt, Timon mit einem überdimensionalen Kopf, der oben offen ist und den Blick freigibt auf ein Hirn, das wirklich wie ein Hinterstübchen aussieht — Kammer neben Kammer, leer.

Über vierzig Masken sind es am Ende, die am Bühnenrand liegen und mit totem Blick ins Publikum starren. Dahinter steht ein gutes Dutzend Schauspieler des Bochumer Ensembles, endlich Mensch geworden. Ihre Leistung ist nicht hoch genug anzurechnen, denn sie haben es geschafft — obwohl ihrer Gesten und ihres Ausdruckes beraubt — den Puppen soviel Charakter zu verleihen, daß eben mehr daraus wurde als ästhetisches Puppentheater. Sie hielten die Vorführung in einer Schwebe zwischen stilisiertem Spiel und ernster Pose, die beides zuließ, Ironie in der Zeichensprache des Comicstrip und die reflektierende Auseinandersetzung mit Shakespeares Text. So war das eigentliche Bühnenerlebnis des Abends etwas, was das Stück so beharrlich in Abrede stellt: das gemeinsame, nur in Harmonie denkbare Zusammenspiel. Christof Boy