: Wo leere Dosen auf den Schränken stehen
Seit dem Sturz von Ceausescu hat sich in Rumänien wenig geändert/ Ende der wirtschaftlichen Misere nicht abzusehen/ Resignation macht sich breit ■ Von Helmut Frauendorfer
In diesem Jahr war ich bereits viermal in Rumänien. Das erste Mal Anfang Januar. Schon damals war die euphorische Stimmung in der Bevölkerung weitgehend verflogen. Aber man konnte sie noch spüren. Denn damals schon begannen die Leute zu ahnen, daß im Dezember lediglich der Diktator gestürzt wurde, doch die Strukturen der Diktatur blieben bestehen. Iliescu und seine Leute gründeten die „Front zur nationalen Rettung“ und nutzten das entstandene Machtvakuum. Sie übernahmen die Macht und sorgen seither mit vorwiegend unlauteren Mitteln dafür, daß sie an der Macht bleiben. Die Bevölkerung ließ sich vom ewigen Lächeln Ion Iliescus und der männlichen Schönheit Petre Romans faszinieren und wählte überwiegend die Front. Damit hat die rumänische Dezember-Revolution sich totgelaufen.
Selbstverständlich kann die neue Macht ihre Ziele nur noch manchmal mit den Mitteln offener Gewalt verfolgen. Anders als zu Ceausescus Zeiten werden heute „subtilere“ Methoden gesucht. Und gefunden. Sie sind nicht weniger plump und kaum weniger verheerend als die alten Vorgehensweisen. Tagtäglich ist das in Rumänien festzustellen. Man braucht nur die Front-nahen Zeitungen aufmerksam zu lesen, das dem Präsidenten Iliescu unterstellte rumänische Fernsehen zu verfolgen oder sich ganz einfach auf die Straße zu begeben.
Grenzüberschreitender Verkehr
Während meiner letzten Reise, im August, habe ich den Grenzübergang Nadlak nicht mehr benutzt. In Nadlak muß man stundenlang auf die Abfertigung warten. Oft entsteht am Kontrollposten das totale Chaos. Als ich vorletztes Mal bei Nadlak nach Rumänien einreiste, hat ein Grenzpolizist (so heißen die jetzt) unsere Papiere an sich genommen und uns gesagt, wir sollten weiterfahren, über die Grenze, auf der anderen Seite drehen und uns für die Einreise nach Ungarn wieder anstellen, die Grenze erneut passieren, um uns dann in der ersten Autospur wieder für die Einreise nach Rumänien einzureihen. So absurd kann das manchmal werden.
Die Grenzposten sind überfordert, denn es gibt unverändert wenige Übergänge: genauso wenige wie zu Ceausescus Zeiten. Schließlich durften damals ohnehin nur wenige Privilegierte reisen. Auf der rumänischen Seite stehen nun regelmäßig fünf bis sechs Kilometer lange Schlangen von Autos mit rumänischen Kennzeichen. Die Reisenden warten geduldig oder auch nervös, manchmal einen Tag und eine Nacht, auf die Einreise nach Ungarn. Mehrere Grenzübergänge zu fordern ist aber bisher noch keinem eingefallen. Die neuen Machthaber scheinen kein Interesse daran zu haben, das Reisen zu erleichtern. Warum auch? Denn die „Reisenden“, das sind die „Geschäftemacher“. Und zum Teil stimmt das auch.
Die wenigen Waren, die es in Rumänien geben könnte, gibt es nicht. Weder Teller noch Besteck, weder Schuhe noch Kleidung, weder Besen noch Mistgabeln — die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen. Die Läden sind nämlich leergeräumt. Waren jedweder Art werden aufgekauft und in Jugoslawien oder Ungarn oder auch in Berlin verkauft. Auch wenn nur ein paar Groschen dabei herausspringen.
Ein Kilo Nägel läßt sich in Jugoslawien gut verkaufen. Die Dinar kann man in D-Mark umtauschen. Und nachdem mehrere Kilo Nägel, mehrere Unterhosen, mehrere Baumwollhemden in Jugoslawien verkauft wurden, kann man aus Berlin oder aus Szeged andere, westlich aussehende Gegenstände mitbringen, sie eventuell in Rumänien sehr teuer verkaufen, und dann hat man schon „Startkapital“ für größere Aktionen: Am Ende steht dann vielleicht ein Farbfernseher im Haus. Ein armseliger Ausverkauf findet statt. Jeder schafft noch schnell auf die Seite, was er kann. Es fehlt jegliches Vertrauen in die zukünftige Entwicklung, nicht zuletzt, weil es keine richtigen Konzepte zur Sanierung der rumänischen Wirtschaft gibt.
Jahrzehnte von Armut und Elend haben tiefe Spuren hinterlassen. Das letzte, was man voneinander erwartet, ist Solidarität. Jeder sucht dem eigenen Ruin zu entkommen, seine wirtschaftliche Situation aufzubessern. Ein bißchen Komfort, ein bißchen Qualität oder gar eine Spur von Luxus im Haus, das ist der Traum, seien es auch wirklich nur Spuren: zum Beispiel leere Bier- und Cola- Dosen auf dem Küchenschrank — zur Erinnerung an den Augenblick, als man dieses Bier, diese Cola im Ausland trinken konnte.
Ein Zollgesetz sollte diesem Ausverkauf ein Ende machen. Für die bis dahin verunsicherten Zöllner kamen große Zeiten. Doch das Anfang Juli in Kraft getretene Zollgesetz beschränkt nicht nur die Ausfuhr der Waren, sondern auch die Einfuhr. Eventuellen Spenden an Privatpersonen oder an nichtstaatliche Organisationen bleibt nur der komplizierte, bürokratische Weg über das Außenhandelsministerium. Nur so kann man die Zahlung von 30 Prozent Zoll (vom Neuwert) vermeiden. Und das in einem Land, das so arm ist, daß seine Regierung keine Gelegenheit ausläßt, um Auslandshilfe und Spenden zu bitten.
Das Ausbleiben dieser Hilfe haben sich die rumänischen Machthaber aber im Juni selbst eingebrockt: durch den aggressiven und blutigen Bergarbeiter-Einsatz gegen die in Bukarest demonstrierenden Studenten.
Das idyllische Dorf
Nördlich von Nadlak, wo ich letztes Mal nach Rumänien einreiste, war es ruhig. Wir fuhren das einzige Auto mit ausländischem Kennzeichen. Die Zollkontrolle war korrekt und erfolgte streng nach den Regeln des neuen Zollgesetzes. Keinerlei Übergriffe, keinerlei Andeutungen besonderer Wünsche der Zöllner.
Wir fuhren durch die Banater Dörfer. Auf den breiten Straßen Hühner, Gänse, Enten und Kühe. Sehr viele Kühe sogar. Und Kälber. Mir fiel wieder ein, wie die Leute früher die Kälber nachts in Verstecken geschlachtet haben. Das Schlachten von Jungtieren war damals verboten und wurde mit Gefängnis bestraft.
Ich kann verstehen, wie sich manche aus dem Westen kommende Journalisten von dieser Idylle damals ebenso täuschen ließen wie heute. Hübsch sehen diese Dörfer aus, aber hinter den Häuserfassaden herrscht nach wie vor die Armut. Die Anzahl der Gänse und Enten reicht nicht aus, um die zumeist großen Familien zu ernähren. Die Landarbeit ist hart, es fehlt an Geräten, und die Löhne sind immer noch erbärmlich. Wer Arbeit haben will, ist auf das Wohlwollen derer angewiesen, die jetzt das Sagen haben, manchmal sind es dieselben Personen wie früher.
Zukunftsperspektiven tun sich kaum auf. Hoffnung ist ein längst vergessenes Wort. In den Dörfern sieht man zerfurchte Gesichter, müde, traurige Blicke. Wach werden die Leute nur, wenn die Rede davon ist, daß eine Familie im Dorf ein Hilfspaket aus dem Westen erhalten hat. Dann flackert der Neid in ihren Augen.
Ich habe Freunde besucht, die ein Haus in Grabatz, einem Banater Dorf, geerbt haben. Sie haben es geerbt, weil die Verwandten in die Bundesrepublik ausgereist sind, „ausgewandert“. In Grabatz hat es früher eine starke deutsche Minderheit gegeben. Nun sind nur noch einige wenige dort, einer von ihnen ist der Pfarrer.
1938 gab es in Rumänien knapp 800.000 Deutsche. Wenige Jahre nach Kriegsende, Anfang der 50er Jahre, waren es noch etwa 400.000 Rumäniendeutsche. Die letzte offizielle Volkszählung von 1977 ergab in Rumänien die Zahl von etwa 370.000 Deutschen. Im vergangenen Jahr wurde die Zahl der Rumäniendeutschen auf etwa 150.000 bis 200.000 geschätzt. Und von Januar bis August dieses Jahres sind etwa 80.000 in die Bundesrepublik ausgereist.
Meine Freunde wohnen eigentlich in der Stadt, in Temeswar. Sie kommen nur am Wochenende nach Grabatz, oder werktags nach Feierabend, um nach dem Garten zu sehen. Sie haben Mais angepflanzt, Paprika und Tomaten. Doch die Erde ist hart, trocken und rissig. Mein Freund lädt ein Plastikfaß auf eine Schubkarre und bringt Wasser aus der Nachbarschaft. Mühsam begießt er Pflanze für Pflanze mit einem Eimer. Seine Kinder helfen mit, und es macht ihnen sichtlich Vergnügen. Nach einigen Stunden ist von der ganzen Aktion nichts mehr zu sehen. Alles wieder trocken.
Ich besuche das Haus, das neben dem meiner Freunde steht. Es besteht aus sieben Zimmern, einem langen Flur, einer Terrasse, einem großen Keller und einem das ganze Haus überdeckenden Aufboden. Zum Haus gehören ein Hof und ein Garten. Wo die Grenze zwischen Hof und Garten einmal war, ist nicht mehr zu erkennen. Hohes Gras, wilde Pfanzen haben alles überwuchert.
Ich gehe durch die Zimmer. Darin wachsen Disteln und andere Pflanzen. Türen und Fenster gibt es längst nicht mehr. Reste eines Fußbodens sind nur noch längs der Wände zu erkennen. Jemand hat alles Brennbare verheizt. Sogar die Treppe, die zum Aufboden führte. Oben klafft nur noch ein Loch. Die breiten Wände aus gebrannten Ziegeln hingegen werden der Witterung noch Jahrzehnte stand halten, eingehüllt in wild wucherndes Grün.
Ich gehe wieder auf die Straße und schaue um mich. Am Haus gegenüber sind die Fenster mit Brettern zugenagelt. Auch dort wohnt niemand mehr. Ebenso im dritten Haus auf dieser Straßenseite. Die zurückgelassenen oder leerstehenden Häuser zählt hier längst keiner mehr. Gezählt werden die Familien, die Personen, die noch nicht weg sind.
Die Auswanderung hatte bereits zu Ceausescus Zeiten große Lücken in diese Rest-Minderheit gerissen. Die meisten Familien haben den Großteil ihrer Verwandtschaft und Freunde bereits in der Bundesrepublik. Jedes Vertrauen in dieses Land ist ihnen abhanden gekommen.
Die wirtschaftliche und politische Ausweglosigkeit ist einer der Gründe, die zu diesem Exodus führten und führen. Auch die Tatsache, daß man im Demokratischen Forum der Deutschen in Rumänien, das Anfang dieses Jahres gegründet worden ist, zum Großteil dieselben Personen wiedererkannte, die in Ceausescus Alibi-Rat der „Werktätigen deutscher Nationalität“ bereits Positionen innehatten. Als dieses Demokratische Forum der Deutschen Anfang Juli mit einer äußerst kritischen und brisanten Erklärung an die Öffentlichkeit trat, war es für viele zu spät. Nur wenigen machte es Mut und Hoffnung auf eine Veränderung. Denn die Reaktion Iliescus darauf war eine plumpe Unterstellung: Die Deutschen hätten diese Erklärung unter dem Einfluß der ungarischen Minderheit geschrieben.
Gesucht: Ein Feind
Alle politischen Führer mit diktatorischen Intentionen brauchen einen Feind. Ceausescus Feindbild war die Sowjetunion. Nach den Veränderungen in der Sowjetunion ist es untauglich geworden, obwohl der Antisowjetismus in großen Teilen der rumänischen Bevölkerung bis heute tief verankert ist. Jetzt ist Iliescu auf der Suche nach dem Feind und scheint ihn auch schon gefunden zu haben: die ungarische Minderheit.
Selbstverständlich wird dieses Feindbild nicht immer so deutlich wie in der Situation, als die Delegation der deutschen Minderheit bei Iliescu war. Rumänische Politik spielt sich auf einer ganz anderen Ebene ab. Auf der Ebene, auf der auch vor den Wahlen schon manipuliert wurde: Desinformation und gezieltes Ausstreuen von Gerüchten in jenen Schichten der Bevölkerung, die (noch) etwas zu verlieren haben. Dies sind die wichtigsten Methoden des politischen Machtkampfes, der in Rumänien die Politik ersetzt.
Die „Front“ mußte sich eigentlich gar nicht groß darum bemühen, das Feindbild „die Ungarn“ zu etablieren. Diese Arbeit wurde ihr von der nationalistisch-chauvinistischen Organisation „Vatra romÛnesca“ (Rumänischer Herd, Rumänische Wiege) abgenommen. Die war es auch, die für die Eskalation der Ereignisse in Tirgu Mures im März dieses Jahres sorgte.
Meinungsmache und Hetze gegen die Ungarn in Rumänien nehmen zu. Daß Lazlo Tökes, der ungarische Pastor, der die Revolte von Temeswar auslöste, ein Agent des ungarischen Geheimdienstes sei, ist schon ein alltägliches, ja gängiges Gerücht. Und die Hetze steigert sich. Nun heißt es: aufpassen beim Verkauf von Grundstücken und Boden! Die Ungarn in Siebenbürgen wollen auf diese Art Stück für Stück Siebenbürgen aufkaufen und die Rumänen vertreiben!
Nachzulesen ist das sogar in einer „absolut unabhängigen Wochenzeitung“ (so der Untertitel), die vor kurzem herauskam: 'Romania Mare‘ (Großrumänien), Ausgabe vom 10. August 1990: „Weiterhin eine besorgniserregende Situation in einigen Gegenden Siebenbürgens: Durch widerwärtige Geschäftemacherei gelangten eine Menge Berge und Hügel in den Besitz ungarischer Minderheitler, die das Geld dafür aus Budapest erhielten. [...] Dies ist Entwendung nationalen Territoriums, was schwerwiegende Folgen für die Souveränität Rumäniens haben könnte, etwa in der Art, wie es mit den Juden und den Palästinensern geschehen ist.“
Der Direktor der soeben zitierten Zeitung heißt Eugen Barbu, der Chefredakteur Corneliu Vadim Tudor. Beide waren eifrige Speichellecker am Hofe des Diktators, und deshalb ließen sie auch ein halbes Jahr verstreichen, bis sie sich nach den Dezember-Ereignissen wieder zu Wort meldeten. Nun wird ihre Zeitung als Geheimtip gehandelt.
Ich bemerkte das, als ich um Zeitungen anstand. Vor mir fragten Leute hinter vorgehaltener Hand oder flüsternd nach der 'Romania Mare‘. Die Verkäuferin musterte erst die Käuferin oder den Käufer, ehe sie in eine unter ihrem Tisch stehende Holzkiste griff und diese Zeitung, das Titelblatt nach innen gefaltet oder in eine andere Zeitung eingewickelt, über den Tisch schob.
Die Kombination von Nationalismus, Hetze und Skandalgeschichten, wie sie 'Romania Mare‘ anbietet, wird eben gern gelesen. Doch trieben es die beiden Herren manchmal so weit, daß selbst die Zeitung der Front, 'Azi‘ (Heute), sich davon distanzieren und die Angriffe auf Personen aus dem kulturellen und politischen Leben kritisieren mußte.
Vor allem nach dem Echo, das der Einsatz der Bergarbeiter international hervorgerufen hat, ist die Front zumindest in der Öffentlichkeit bemüht, ein freundliches Gesicht zu zeigen. Innerhalb des Landes arbeitet die Front weiterhin mit Hilfe von Gerüchten, Meinungsmache und Hetze.
Die Politik der Gerüchte
Vor den Wahlen wurden gezielt Gerüchte über die Führer der Oppositionsparteien in Umlauf gebracht. Ich war richtiggehend erstaunt darüber, daß die Leute all den Quatsch, der über die Oppositionellen verbreitet wurde, tatsächlich geglaubt haben: Gerüchte über Ehebrüche, Verbrechen und alle möglichen Schweinereien bis hin zu Morden. Wenn ich sie dann gefragt habe, wo sie das her hätten, sagten sie immer wieder, sogar Radio Free Europe hätte das gesendet. Aber keiner meiner Gesprächspartner hatte selbst eine solche Sendung gehört. Sie wußten es immer nur von anderen, glaubten aber fest daran.
Das war eine neue Dimension in der Gerüchteküche: Radio Free Europe, das mit seinem rumänischen Programm während der Diktatur eine wichtige Rolle für die Bevölkerung gespielt hatte, wird nun als Garant für das Zutreffen wüster Gerüchte eingesetzt. Bei einigen wenigen, die nicht daran denken, diesen Gerüchten zu glauben, wird der Sender damit zugleich diskreditiert. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Zur Zeit ist eine neue Hetzkampagne im Gang: gegen die Privatinitiative. Dies ist wieder mal einer der speziellen Wege der rumänischen Politik: Einerseits hat der Premierminister ein Wirtschaftsprogramm vorgelegt, das die Privatinitiative nicht ausschließt, andererseits wird heftig dagegen gearbeitet.
An der Ecke zwischen der Temeswarer Universität und dem Studentenviertel steht eine neue Pizza- Bude. Abends flackern hier sogar rote Glühlampen. „Tja“, sagt mein Temeswarer Begleiter, „lange wird diese Bude nicht da stehen. Dem werden sie bald die Glühlampen zerschlagen. Damit wird es anfangen.“
Denn schon heißt es in einigen Bevölkerungskreisen, die Privatunternehmer, die wollten sich doch eigentlich nur persönlich bereichern, auf Kosten der Bevölkerung und des Vaterlandes. Die gehörten auch zu den Leuten, die kein anderes Interesse hätten als ihr Vaterland zu verkaufen. „Wir verkaufen unser Land nicht“ ist eine der Losungen, mit der die Bevölkerung überzeugt werden soll, die zentralistische Mißwirtschaft weiterhin zu akzeptieren.
Totale Kontrolle über die Wirtschaft
Die Rechte der Privatunternehmer sind sehr eingeschränkt. Ein Privatunternehmer darf zum Beispiel nicht mehr als 20 Angestellte haben. Und neuerdings sollen die Privaten auch nicht mehr von staatlichen Betrieben beliefert werden dürfen. Woher sie ihre Lieferungen in einem Land beziehen sollen, in dem es noch keine Privatunternehmen gibt, sagt ihnen niemand, und das geht die neuen Machthaber offenbar auch nichts an. Ihr einziges Interesse besteht darin, die Kontrolle über die Wirtschaft nicht zu verlieren. Durch ein äußerst undemokratisches System, das Ernennen von Präfekten in den Landeskreisen, die dann wiederum den Bürgermeister ernennen können, ist die totale Kontrolle in allen Landesteilen gewährleistet.
Eine Frau, die ein Bekleidungsgeschäft eröffnet hatte, zählte ihre Ausgaben auf und die Preise, die sie nach den neuesten Bestimmungen festzusetzen hatte. Ihr Gewinn war gleich Null. Sie mußte den Laden schließen. Diese Privatunternehmerin mit ihren Problemen durfte sich sogar in einer Fernsehsendung äußern. Nicht zu Unrecht ist das Fernsehen in den Ruf geraten, daß die Programme der strikten Kontrolle Iliescus und seiner Handlanger unterliegen. Schließlich ist die Fernsehanstalt Iliescu auch formal direkt unterstellt. Doch versucht die Fernsehstation ihr Image aufzupolieren, indem sie ab und zu (aber ziemlich selten) eine kritische Sendung einstreut.
Ansonsten werden im Fernsehen mit Vorliebe Sendungen über Verbrecher gezeigt. Am besten kommen Bilder bei den Zuschauern an, auf denen die „Verbrecher“ eine dunklere Hautfarbe haben. Im Rundfunk hörte ich, wie klipp und klar vom „Zigeuner-Dieb“ gesprochen wurde. Auch in diesem Fall wirkt die Hetze. Die „Zigeuner“ sind das Feindbild Nummer zwei.
Einvernehmen durch Korruption
In der rumänischen Gesellschaft haben zuviele Mitwisser, Mitschuldige, Mittäter aus der Zeit von Ceausescu das Sagen, als daß sich grundlegend etwas ändern könnte. Korruption ist immer noch das verbindende Glied, auf diese Weise wird Einvernehmen hergestellt. Das gilt in der Wirtschaft wie in der Politik. Aber gewöhnlich geht das Hand in Hand.
So ist es auch zu erklären, daß die alten Securitate-Offiziere im neuen rumänischen Nachrichtendienst tätig sind. Sicher, eine Zeitlang waren manche von ihnen einigermaßen verunsichert, doch in letzter Zeit gehen sie doch wieder selbstsicher und selbstbewußt in den Dienst. Zum Beispiel Major Ioan Adamescu, der womöglich heute einen höheren Dienstgrad hat. Doch als ich ihn kennenlernte, war er Major. Er hat mich 1984 fünf Tage lang verhört und dabei einmal auch verprügelt. Als er es zum zweiten Mal versucht hat, bin ich ihm entkommen, weil es ihm zuviel war, um die Schreibtische herum hinter mir herzulaufen.
Auch heute wird noch versucht, Oppositionelle einzuschüchtern, Telefongespräche werden manchmal wie früher unterbrochen, Briefe kommen geöffnet an. Die Reihen der demokratischen Opposition, die für die Einhaltung der Menschenrechte in Rumänien aufgetreten ist, waren seit jeher dünn. Die Bevölkerung unterstützt sie kaum. Die neuen Parteien zersplittern. Selbst die Front ist eine heterogene, vom Machtgerangel zersetzte Gruppierung. Die Frage ist: Wer regiert eigentlich in Rumänien?
Als ich Mitte August Rumänien verließ, hörte ich in den Nachrichten, Iliescu habe einer jugoslawischen Zeitschrift gegenüber wieder von der „Gefahr eines vom Ausland gesteuerten faschistischen Putsches“ gesprochen. Glaubt er nun wirklich auch schon an das, was er sagt? Ist auch Iliescu paranoid? Oder ist er nur eine Vorzeigefigur des Geheimdienstes? Wer sonst außer der Securitate hätte ein Interesse daran gehabt, daß die Ceausescu-Sprößlinge freigelassen werden?
Offenbar hat ein Kuhhandel stattgefunden. Der Studentenführer Marian Munteanu und andere der im Juni Inhaftierten wurden freigelassen, damit der Sohn Valentin Ceausescu und die Tochter Zoe Ceausescu aus der Haft entlassen werden können. Beinahe wäre es sogar gelungen, auch den „Kronprinzen“ Nicu Ceausescu freizubekommen, aber das war dann wohl doch ein zu starkes Stück. Die Staatsanwaltschaft stellte sich quer.
Aber verhaftete Oppositionelle gibt es noch immer, auch vom 18. Februar, als das Regierungsgebäude gestürmt wurde. So mancher gerät in Vergessenheit. Und immer wieder wurden Leute verhaftet. Die Polizei hat ihr Selbsbewußtsein zurückerlangt und prügelt auf Demonstranten ein, wie am 27. August.
Es ist aber eine Minderheit, die protestiert. Die Mehrheit hat kein Verständnis dafür. Und ein Interesse an Veränderungen schon gar nicht. Was tut sie? Nichts. Denn bislang wird nicht ganz so gehungert wie früher. Noch ist es nicht kalt in den Wohnungen. Und alles ist gut. So einfach kann das sein.
Politischer Diskurs oder Gewalt
Politik gibt es in Rumänien kaum. Höchstens Reaktionen auf materielle Mißstände. Der Herbst ist da. Wer bringt wohl die Ernte ein? Ceausescu hat dafür immer die Schulen und Hochschulen schließen lassen und Schüler, Studenten, Arbeiter und Soldaten auf die Felder gejagt. Kann Iliescu sich das leisten? Oder wird, um den demokratischen Schein zu wahren, von irgendwoher ein Aufruf kommen, in dem Schüler, Arbeiter und Studenten sich „freiwillig“ zum Ernteeinsatz melden, ein Aufruf, der dann in ganz Rumänien durchgesetzt wird? Werden die Mitglieder der Armee es akzeptieren, wieder zu Billigarbeitskräften degradiert zu werden?
Das ist hier ohnehin eine der ganz entscheidenden Fragen: Was läßt die Armee sich bieten, und welche Kräfte und Fraktionen innerhalb des Militärs werden sich durchsetzen?
Und wenn der Winter kommt, wird es in den Wohnungen wieder kalt, weil es an der nötigen Heizenergie fehlt. Spätestens dann wird auch ein Großteil der Bevölkerung begreifen, daß bislang keine grundlegenden Reformen stattgefunden haben. Dann stehen neue Auseinandersetzungen an. Spätestens am Jahrestag der „Revolution“, wie manche die Dezember-Ereignisse immer noch bezeichnet wissen wollen. Aber dann wird es keinen gemeinsamen Feind geben. Die Gesellschaft wird durch alle Schichten hindurch, Armee und Polizei eingeschlossen, polarisiert sein. Ob es zu blutigen Auseinandersetzungen kommt oder Kompromisse geschlossen werden, sei dahingestellt. Allerdings ist ein politischer Diskurs in Rumänien noch nicht entstanden.
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