piwik no script img

Der Haß gegen „die Roten“ ist geblieben

■ Nur scheinbar ist in Polen die Aussöhnung geglückt

Wenn man Walesas Argumentation im gegenwärtigen polnischen Wahlkampf folgen will, geht es um den Kampf des Lagers der „Beschleuniger“ unter seiner Führung gegen das Lager der „Bremser“ um Ministerpräsident Mazowiecki. Beschleunigt werden soll nicht nur der Prozeß der Privatisierung, sondern auch der der Abrechnung mit den Verantwortlichen für die Trümmerlandschaft, die der Realsozialismus hinterlassen hat. Tatsächlich war es eine der Merkwürdigkeiten der Regierung Mazowiecki, daß sie am Kompromiß des Runden Tisches, d.h. auch an der Präsidentschaft Jaruzelskis und der Regierungsbeteiligung der Exkommunisten zu einem Zeitpunkt festhielt, als von der ehemaligen Staatspartei PVAP nur noch ein paar sozialdemokratische Splitter übriggeblieben waren. Für einen Teil der realsozialistischen Klassenbasis, die „Kader“ der Staatsbetriebe, eröffnete sich 1989 die Möglichkeit, durch Gründung von GmbHs im vormals verstaatlichten Großhandel und durch „kalte“ Privatisierung von Betriebsteilen den Absprung ins Management zu schaffen. Diese Praxis wurde zwar allgemein verurteilt und durch einen Spruch des Obersten Gerichtshofs auch zum Teil annulliert, letztlich aber doch hingenommen, weil sie zur Effektivierung von Produktion und Handel beitrug.

Teils freiwillig, teils unter dem Druck der Öffentlichkeit und dem Zwang neuer Gesetze trennte sich die PVAP bzw. ihre Rechtsnachfolgerin vom Vermögen der Partei. In diesen Tagen geht als einer der letzten Akte der Verkauf des früher von der Partei kontrollierten VerIagsimperiums „Ruch“ über die Bühne. Nicht mehr die Ex-Realsozialisten, sondern der von der Regierung eingesetzte Auflösungsbevollmächtigte Dygalski steht wegen seines willkürlichen Verkaufs und seiner Personalpolitik im Zentrum der Kritik. Insofern sind die Verhältnisse normalisiert und die Ex-Nomenklaturisten aus dem Schneider. Im schroffen Gegensatz zu allen Ländern des ehemaligen Ostblocks ist die Säuberung des Sicherheitsapparats völlig geräuschlos über die Bühne gegangen. Die ehemaligen Geheimdienstler und Spitzel mußten sich einer Verifikationskommission stellen und wurden je nach Ergebnis rausgeworfen oder umgesetzt. Viele gingen auch von sich aus. Erst jetzt — sicherlich nicht ohne Zusammenhang mit dem anrollenden Wahlkampf — wurde der Fall des ehemaligen Sicherheitschefs Milewski aufgedeckt, dessen Erpressungen und Räubereien seinerzeit vom Politbüro, d.h. auch von Jaruzelski, der Gerichtsbarkeit entzogen wurden.

Jaruzelskis eigene Rolle bei der blutigen Niederschlagung der Arbeiterproteste von 1970 an der Ostseeküste — er war damals Verteidigungsminister — ist ebenfalls unaufgeklärt. Noch schwerwiegender ist der Verdacht, der wegen einer möglichen Beteiligung am Popeluszko- Mord auf den ehemaligen Sicherheitsapparatschiks einschließlich des Generals Kiszczak lastet. Die Ermordung der Arbeiter 1970 und des Solidarność-Priesters 1983 sind mittlerweile fester Bestandteil der polnischen „Martyrologie“. Weil diese Verbrechen nie mehr aufklärbar sein werden, verhindert ihre ständige Gegenwart im Bewußtsein der Polen jede wirkliche Aussöhnung mit den früheren Machthabern.

Gerade auf diesem Ziel basierte aber die Innenpolitik der Regierung Mazowiecki, die hierbei der Unterstützung des Papstes und großer Teile der Kirchenhierarchie sicher sein konnte. Mazowieckis sanfter, auf Ausgleich und humane Lösungen bedachter Regierungsstil hat zwar öffentliche Rachefeldzüge verhindert. Der Haß gegen die „Roten“, die „Kommune“ aber ist geblieben. Er ist im kollektiven Gedächtnis tief eingegraben und wird sich, nachdem die Realsozialisten geräuschlos abgetreten sind, neue Opfer suchen. Christian Semler, Warschau

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen