Die „Tunnel-Tiger“ im Akkord

Iren, Tunesier und Algerier graben das Jahrhundertwerk/ Wegen Zeitdruck wurden Sicherheit vernachlässigt und lebensgefährliche Arbeitsbedingungen riskiert  ■ Von der Halbinsel R. Sotschek

„Sie essen und trinken ungeheure Mengen. Zwei Pfund Rindfleisch und eine Gallone Bier sind eine normale Tagesration. Ihr wildes Benehmen wird nur durch ihre verdorbene Sprache übertroffen.“ Das schrieb ein britischer Journalist im vergangenen Jahrhundert über die „Navvies“, die irischen Arbeitsemigranten, die in Großbritannien bei öffentlichen Bauprojekten und besonders schweren und gefährlichen Arbeiten eingesetzt wurden. Zwar war die Bezahlung gut, doch die durchschnittliche Lebenserwartung eines Navvy betrug nur 40 Jahre.

Die Navies heißen heute „Tunnel- Tiger“. Sie stellen einen Großteil der 4.000 Arbeitskräfte für den Eurotunnel auf englischer Seite. Ihr Ruf bei den englischen Boulevardblättern ist auch nicht besonders gut: Die 'Sun‘, Englands Antwort auf die 'Bild-Zeitung‘, behauptet, die irischen Tunnel-Arbeiter verdienen 3.000 Mark in der Woche, trinken jeden Abend 20 Bier und laufen danach in der vornehmen Hafenstadt Folkestone Amok. Das Konkurrenzblatt, der 'Daily Express‘ weiß zu berichten, daß sie immer am Zahltag eine Kollekte für die Irisch-Republikanische Armee (IRA) abhalten.

Die Iren stören solche Zeitungsberichte wenig. Die meisten von ihnen stammen aus Donegal im Nordwesten Irlands, einer Gegend mit hoher Arbeitslosigkeit. Sie sind zufrieden, ihren Teil zur Verwirklichung des Traumes von Napoleon, Harold Wilson und Margaret Thatcher beitragen zu dürfen. „Warum sollten wir Thatcher nicht dankbar sein?“, fragt ein 28jähriger irischer Werkzeugmacher. „Sie ist weiß Gott gut zu mir und den anderen Iren hier.“

Die Hochachtung beruht auf Gegenseitigkeit: Bei einem Besuch in Dover bedankte sich die Premierministerin ausdrücklich bei den „Arbeitern von der anderen Insel“. Doch sie erwartet auch, daß das Plansoll erfüllt wird.

Der Tunnel soll an dem Tag eröffnet werden, an dem Thatcher den 14. Jahrestag ihrer Inthronisierung feiern will. Dafür schuften die Arbeiter im Akkord nach einem ausgeklügelten Plan, der 27 verschiedene Schichten umfaßt. Auf sechs Tage Arbeit folgen drei freie Tage. Viele verzichten jedoch darauf und arbeiten durch. Der Zeitdruck erhöht das Unfallrisiko.

Auch auf französischer Seite hat man auf Arbeiter aus den ehemaligen Kolonien, vor allem aus Algerien und Tunesien, zurückgegriffen. Die ungelernten Arbeiter werden vor allem obertage beschäftigt: beim Gießen der Betonsegmente. Sie werden es auch sein, die nach Abschluß der Arbeiten als erste entlassen werden (deswegen auch die Streiks der CGT- und CFDT-Gewerkschaften in dieser Woche).

Auch auf Frankreichs Baustelle in Sangatte werden die Arbeiter zur Eile angetrieben: Über den Rolltüren zu den Fahrstühlen, die sie in den Tunnelschacht nach unten befördern, sind Schilder angebracht, auf denen verzeichnet ist, wieviele Meter jede Schicht bereits vorangekommen ist. Die Baustellenleitung versucht, die jeweiligen Schichten zum Wettbewerb gegen die Mannschaften in den anderen Tunnels anzutreiben. Bei Übererfüllung des Plansolls gibt es Prämien bis zu 50 Prozent des Lohns.

Die Arbeiter in Dover werden immerhin täglich daran erinnert, warum sie so gut bezahlt werden: Bevor sie in den Fahrstuhl-Käfig steigen, erhalten sie eine Blechmarke mit einer Nummer. Im Falle eines Feuers oder einer Explosion können die Opfer anhand der Marke identifiziert werden.

Bisher sind sieben Menschen beim Tunnelbau ums Leben gekommen — sechs davon auf britischer Seite. Das Baukonsortium TML ist in England bereits in zwei Fällen wegen Vernachlässigung der Sicherheitsvorkehrungen strafrechtlich verfolgt und zur Zahlung von 50.000 Pfund Strafe verurteilt worden. Während die Arbeitsbestimmungen eher locker gehandhabt werden, wird das Baugelände wie Fort Knox bewacht.

Die Arbeiter dürfen keine Fotoapparate in den Tunnel mitnehmen und haben gegenüber der Presse striktes Redeverbot. Zwei Arbeiter wurden entlassen, weil sie das Verbot mißachtet hatten. Als Andrew McKenna im vergangenen Jahr von einer Lore überrollt und getötet wurde, durfte nicht einmal der Pfarrer zu ihm in den Tunnel.

Offiziell dienen die Sicherheitsvorkehrungen dem Schutz vor terroristischen Anschlägen. Der wahre Grund ist jedoch vermutlich die Angst vor einem Fall der Aktienkurse, falls negative Berichte über die Planerfüllung in der Presse erscheinen. TML muß für jede Verzögerung bei der Fertigstellung des Tunnels hohe Summen Schadenersatz an Eurotunnel zahlen.

So werden die irischen Arbeiter weiterhin Kopf und Kragen riskieren, damit Thatchers Pyramide rechtzeitig fertiggestellt wird. Die britische Feuerwehr-Gewerkschaft hält die Parallele zu den ägyptischen Pharaonengräbern durchaus nicht für abwegig: Sie prophezeite, daß der Kanal-Tunnel eines Tages zum „längsten Krematorium der Welt“ werden könnte.