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Toleranz gefordert

■ In der sowjetischen Moldaurepublik spitzt sich der Nationalitätenkonflikt zu KOMMENTARE

Zweifellos haben die Rumänen ein historisches Recht, wenn sie die Vereinigung von Rumänien und der sowjetischen Moldaurepublik fordern. Denn ähnlich wie im Fall der baltischen Länder wurden hier, im Südosten Europas, durch den Stalin-Hitler-Pakt Grenzen im Interesse des deutschen und sowjetischen Einflußgebietes gezogen, die sich nicht nach den Wünschen der Mehrheiten der Bevölkerungen richteten und auch nach dem Zweiten Weltkrieg gültig blieben. Das Leiden der Menschen in dieser Region während des Zweiten Weltkrieges, das die Deportation von 60.000 Menschen nach Sibirien noch vor dem deutschen Angriff, die Ermordung von Hunderttausenden von dort lebenden Juden in den deutschen Konzentrationslagern und die nach 1944 wieder einsetzenden Deportationen vor allem von Rumänen in die Sowjetunion einschließt, ist vielen älteren Moldauern in Erinnerung geblieben. Zwar hatte die in den letzten Jahren von nationalistischen rumänischen Intellektuellen angeregte Vereinigungsdiskussion dennoch kaum Chancen, in der Bevölkerung ernst genommen zu werden — solange Ceausescu lebte. Mit dem Sturz des Tyrannen und dem Zerfall der Sowjetunion aber ist die Forderung nach Vereinigung kein Hirngespinst mehr, sondern könnte als eine realistische politische Perspektive gelten.

Angesichts der Erfahrungen mit dem Stalinismus hüben und drüben, mit den Deportationen und Morden wirkt es in der heutigen Situation aber befremdlich, wie die rumänische Nationalbewegung gegenüber den Minderheiten agiert. Schon gleich zu Beginn der Volksfrontbewegung 1988, in der anfänglich noch alle Nationalitäten gleichermaßen vertreten waren, sorgten rumänisch-nationalistische Kreise in der Moldaurepublik für eine „ethnisch reine“ Volksfront und drängten die anderen Nationalitäten aus ihr heraus. So ist aus einer für die Demokratie eintretenden Volksbewegung zunehmend eine nationale Erneuerungsbewegung geworden. Die Ausrufung der autonomen Republik der Gagausen dokumentiert die entstandene Unsicherheit für die Minderheiten. Der offene Nationalismus könnte, trotz Gorbatschows Unterstützung für die moldauische Regierung, zudem zu einem anderen Zeitpunkt Moskau Argumente liefern, sich gegen den rumänischen Vereinigungsprozess zu stellen.

Wenn es jetzt zu blutigen Übergriffen der Milizen und Rechtsradikalen an Mitgliedern der Minderheiten gekommen ist, wird die in Rumänien immer wieder beschworene „Toleranz des Rumänentums“ einer wichtigen Probe unterzogen. Es ist zu hoffen, daß sich dieses Element des kulturellen Erbes des Landes nicht als pure Ideologie erweist. Wenn aber die Verantwortung für die Diktatur des Stalinismus heute unterschwellig den Russen und Juden zur Last gelegt wird — wie dies in einigen Presseorganen geschieht —, anstatt alle als Opfer des Systems zu betrachten, dann müßten die Politiker in der herrschenden „Front zur nationalen Rettung“, wie jene der Opposition, solchen ungeheuren Anschuldigungen öffentlich entgegentreten. Leider scheint die zögernde Haltung der Regierung nicht auf der nationalistischen Welle mitzuschwimmen, lediglich außenpolitischen Gründen — man will nicht die Sowjetunion vollends ins Chaos stürzen — geschuldet. Mehr noch verwundert aber, daß die demokratische Opposition angesichts dieser Problematik die Augen verschließt. Erich Rathfelder

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