: Dresden, 2.Oktober
Wer überbrückt die gesetzlosen Zeiten? ■ Von Martin Groß
Wenn es stimmt, daß jede Lücke in der Abfolge der Regierungen die öffentliche Ordnung gefährdet, wenn es folglich keinen Augenblick geben durfte, in dem die Macht neuen Atem schöpfte und dabei die Augen schloß, dann mußte jemand bereitstehen, im Moment des Übergangs die Geschicke in der Hand zu halten. Es mußte einen Mann geben, der die Leere zwischen Abbruch und Neubeginn überbrückte, einen Mann, der, ohne eine Gegenwart zu besitzen, Vergangenheit und Zukunft zu verbinden verstand, kurz: eine Übergangsfigur. Jetzt im Oktober, wo die alten Regierungsbezirke aufgelöst und die neuen Landesregierungen noch nicht etabliert waren, brauchte man einen solchen Mann. Und wie zu hören war, hatte man tatsächlich auch diesmal eine Figur des Übergangs eingesetzt. Wie aber sah ein solcher Mann aus, wie kam er seinen Geschäften nach, wie überbrückte er die gesetzlosen Zeiten? Bekanntlich sind die Augenblicke selten, in denen man eine Antwort auf diese Frage suchen kann. Ich fuhr also zu jenem Gebäude, in dem sich ein solcher Wandel vollziehen sollte: dem Gebäude des bisherigen Rats des Bezirkes.
Wer dieses Gebäude betreten wollte, mußte einige Treppen hinaufsteigen. Einfach und geradewegs kam man nicht hinein, denn es war einer der Prachtbauten aus der Kaiserzeit. Man sollte die Anstrengung und die innerliche Erhöhung spüren, die es bedeutet, von der Straße her hier eintreten zu dürfen. Und selbst ein bedeutender Mann, der mit großer Delegation erwartet wurde, mußte gestatten, daß man ihn von oben herab empfing.
Als ich die Treppen hinaufstieg, wehte mir eine von Bauschutt und Maschinenöl erfüllte Luft entgegen. Unwillkürlich hatte ich das Bedürfnis, mir die Ärmel abzuklopfen, bevor ich mit dem Pförtner sprechen würde. Der Pförtner war allerdings ein müder Mann. Auf die Ellbogen gestützt, saß er in seinem Raum und blickte hinaus in den Treppenaufgang und den Lärm der Baumaschinen. Ich mußte ihm erst durch ein Zeichen zu verstehen geben, daß ich eine Frage an ihn zu richten hatte. Dies war bisher das Gebäude des Rats des Bezirkes? — Ja. Dies war auch der Sitz der zukünftigen Landesregierung? — Ja. Aber wer war der Mann, der zwischenzeitlich die politischen Entscheidungen traf, und wo war er zu finden? Der Pförtner nahm ein Verzeichnis zur Hand und wandte es hin und her, ohne hineinzusehen. Vielmehr sah er mich so von unten herauf an, als wolle er sagen, es sei ohnehin keine Auskunft darin zu finden. Schließlich richtete er sich auf und nannte einen Namen, den ich, vom Lärm der Schläge und Stöße abgelenkt, nicht ganz erfaßte. Es hätte „Dr.Karl Bader“ heißen können. Was ich aber mit aller Gewißheit verstand, war die Nummer eines Zimmers im ersten Stock. Das genügte.
In dem Zimmer, das mir der Pförtner genannt hatte, fand ich weder den gesuchten noch überhaupt einen Mann. Eine unübersichtliche Zahl von Sekretärinnen war damit beschäftigt, Kartons auszupacken, Schubladen zu füllen oder Telefonanrufe entgegenzunehmen; aber keiner von ihnen schien aufzufallen, daß da ein Fremder das Zimmer betreten hatte. Der streng musternde Blick der Behörde, den man unwillkürlich beim Betreten eines Vorzimmers erwartet, blieb aus. Hier nahm mich niemand wahr. Ich hätte noch einmal hereinkommen müssen, diesmal aber lauter, größer, sichtbarer. Die Frauen schienen sich noch nicht auszukennen, häufig öffneten sie Schubladen und Schranktüren, die sie sofort wieder schlossen, weil sie sich offenbar geirrt hatten. So sehr waren sie in ihre Arbeit vertieft, daß ich fürchtete, bald für einen Bestandteil der Einrichtung zu gelten. Aber offensichtlich erregte gerade meine hartnäckige und schweigende Art, den Sekretärinnen im Weg zu stehen, schließlich doch ihre Aufmerksamkeit. Da war also jemand, um den man sich kümmern mußte. Was allerdings Dr.Bader betraf, so konnten mit die Frauen nur wenig helfen. Ja natürlich, er war noch vor einer halben Stunde hier gewesen, aber er hatte gerade das Büro gewechselt. Dies war nun allerdings ein Satz, den ich nicht genau verstand: Hatte dieser Mann ein neues Büro erhalten, oder war er kurzzeitig in ein anderes Zimmer gerufen worden?
Bevor ich nachfragen konnte, kamen einige Männer mit wehenden Jacketts und geröteten Gesichtern ins Zimmer gestürzt. Einen Aktenordner schief unter den Arm geklemmt, stieß einer der Männer — erstaunlicherweise der jüngste von ihnen — erregte Vorwürfe aus. Er sprach, an einen seiner Begleiter gerichtet, von einer Unverschämtheit, einer politischen Instinktlosigkeit. So heftig war seine Wut, daß der Angesprochene, ein magerer, leicht zu übersehender Mann, erschrocken Atem holte und die Arbeit der Frauen stockte. Der junge, forsche Mann wollte zu gestikulieren beginnen, aber sein Aktenordner behinderte ihn dabei so sehr, daß er sich nach einer Möglichkeit umsah, ihn loszuwerden. Auch seine Begleiter sahen sich angestrengt nach einer Ablage um. Dies war also vermutlich Dr.Bader.
Und jetzt, ausgerechnet in diesem Augenblick, wo niemand ihm wirklich zuhörte, begann der Mann, gegen den sich die Vorwürfe gerichtet hatten, zu antworten. Immerhin: Er konnte im Namen des Kanzlers sprechen, und dieser hatte beschlossen, eine Bundesbehörde, die dieser magere Mann offenbar vertrat, hier in Dresden anzusiedeln. Eines der großen, repräsentativen Gebäude dieser Stadt sollte also der Bundesregierung übereignet werden. Man könnte meinen, das Wort des Kanzlers hätte die anderen Männer beeindruckt. Aber der junge, forsche Mann erregte sich nur noch mehr. Vom Kanzler selbst stammte diese Anweisung! Das hätte man sich ja denken können! Da begann man nun also bereits, Bundesbehörden in der Stadt anzusiedeln, ohne die künftige Landesregierung zu fragen. „Wir haben genug damit zu tun, unsere eigenen Behörden unterzubringen“, rief der Mann. Und nun nutzte man in Bonn die Tatsache, daß noch keine Landesregierung existierte. „Dies ist ein Verstoß gegen das föderalistische Prinzip!“, rief er verbittert, als eines der Telefone zu klingeln begann, ohne daß jemand hinüberging, den Hörer abzunehmen. Alles achtete nur auf den jungen Mann, der sich darüber erregte, wie wenig man in Bonn seine Vorschläge berücksichtigte. Er stammte gewiß aus dem Westen: Aussprache, Kleidung, vor allem die Routine im Gebrauch staatsrechtlicher Begriffe — alles deutete auf westliche Herkunft hin. Er hatte sich die Rolle eines Interessenvertreters dieses Landes also lediglich ausgeliehen. Da ereiferte er sich nun in fremden Angelegenheiten, während das Telefon noch immer hartnäckig klingelte.
Ich fragte mich, wie es möglich war, ein so lästiges Geräusch zu ignorieren, und spielte mit dem Gedanken, einfach den Hörer abzunehmen, um den Anrufer auf bessere Zeiten zu vertrösten. Bader, oder vielmehr der Mann, den ich dafür hielt, war jedenfalls durch das Telefon nicht von seinem Ärger abzulenken, schließlich hatte er gerade erfahren müssen, daß seine besten Vorschläge zunichte gemacht worden waren. Und was er vorgeschlagen hatte, war doch recht einleuchtend. Um eine Konzentration von Beamten und Behörden zu vermeiden — „einen Wasserkopf“ —, hatte er vorgeschlagen, hier in Dresden nur Landesbehörden aufzubauen, Bundesdienststellen aber in Leipzig oder Chemnitz anzusiedeln, schließlich wollte man dort ja auch nicht zur Provinz degradiert werden. Aber in Bonn war nun über alle Köpfe hinweg anders entschieden worden. Wie sollte man nun die argwöhnische Bevölkerung besänftigen? Wie sollte man den Verdacht zerstreuen, die eigentlichen Entscheidungen fielen im Westen? Der Beauftragte des Kanzlers wußte keine Antwort, er wußte nur, daß man ihn hergeschickt hatte, um ein Gebäude für die von ihm vertretene Behörde zu beanspruchen. So stritten sie sich also. So standen sie sich gegenüber, beide aus dem Westen, beide aus derselben politischen Partei.
Erneut klingelte das Telefon, und diesmal nahm eine der Sektretärinnen den Hörer ab. Es handelte sich vermutlich um ein Ferngespräch, denn sie hielt sich das freie Ohr zu und preßte den Hörer eng an das andere. „Ja“, rief sie dann, „ja, er ist gerade hereingekommen“. Damit sah sie zu dem jungen, schneidigen Mann hinüber und hielt ihm den Hörer entgegen. Offenbar sprach aber auch am anderen Ende eine Sektretärin, die im Auftrag ihres Vorgesetzten die Verbindung hatte herstellen sollen und nun ihrerseits das Gespräch weitergab. Der junge Mann, der den Hörer bereits in der Hand hielt, mußte also warten. Er nutzte die Pausen, indem er fragte, ob Dr.Kaltentaler schon von den Beschlüssen des Kanzlers erfahren habe — er sagte tatsächlich „Dr.Kaltentaler“, und ich begann zu fürchten, daß Dr.Karl Bader in Wirklichkeit „Dr.Kaltentaler“ hieß und daß dieser schneidige Mann am Telefon keiner von beiden war. Diese überraschende Konstellation hätte in Ruhe bedacht werden müssen, aber der unbestimmte Mann, der die Frage nach „Kaltentaler“ gestellt hatte, unterband jedes Nachdenken und übrigens auch jede Antwort, indem er kurz die Augenbrauen hob und sich mit einem zweimaligen knappen „Ja“ in das Telefongespräch einschaltete. Das Knie hatte er dabei auf einen Schreibtischstuhl gestützt, und während sein Gesprächspartner ihm nun offenbar ein Problem oder eine Frage vorlegte, drehte er die Sitzfläche dieses Stuhles ungeduldig hin und her.
„Das ist bedauerlich“, erklärte er schließlich ins Telefon, „aber ich kann es auch nicht ändern“. Und er fügte hinzu, „diese Leute“ —damit meinte er offensichtlich diejenigen, die seinem Gesprächspartner augenblicklich einige Probleme bereiteten—, „diese Leute müssen endlich begreifen, daß es für sie keine Ausnahmen mehr gibt. Die haben doch immer so viel Wert auf ihre Unabhängigkeit gelegt, und jetzt kommen sie daher, damit ihnen der Staat mal wieder unter die Arme greift, nicht wahr? — Na sehen Sie.“ Damit war für ihn der Fall geklärt, er legte auf und wandte sich wieder seinen Begleitern zu, kopfschüttelnd zunächst und dann mit strenger Miene. „Ihre Leute scheinen nicht sonderlich sattelfest zu sein“, sagte er, an einen der Männer gewandt. Der hob resigniert die Schultern und drehte die Handflächen in unbestimmte Richtungen. Dann, wie auf ein verabredetes Zeichen, verschwanden die Politiker im Nebenraum, gefolgt von den Sekretärinnen, die geflissentlich die Doppeltür schlossen.
Ich war also allein. Plötzlich war Stille eingekehrt. Aber es war eine Stille, die noch sehr laut war. Der Lärm, obwohl er jetzt ein Ende hatte, war nicht ausgeklungen. Erst allmählich erlosch er an den Wänden, bis er sie kahl und still zurückließ. Was blieb, war ein Zimmer, das mir leer gegenüberstand, obwohl es doch mit Kartons und Papier überfüllt war. Die Verhältnisse hatten sich also umgekehrt: Eben noch befanden sich hier alle anderen — außer mir, jetzt stand nur ich in diesem Zimmer. Es schien unmöglich, daß ich und die anderen zugleich hier sein konnten. Im Grunde genommen hätte ich also jetzt gehen können. Ich hätte wohl sogar gehen müssen, denn in diesem Raum stapelten sich ja Hunderte geheimer Papiere. Andererseits hatte die Tatsache, daß ich und die anderen nicht zugleich hier sein konnten, auch einen beruhigenden Aspekt — sobald eine Sekretärin herauskäme, wäre ich nicht mehr da.
Ich konnte also in diesem Zimmer bleiben, in das jetzt, nachdem der erste Vortrupp weitergestürmt war, noch einmal die Vergangenheit zurückkehrte: die grauen Telefone, die fast ebenso grauen Gardinen, ein paar verwahrloste Pflanzen und das winzige Waschbecken. Wie hoch dieses Zimmer war! Fast glich es einer engen Gasse, und selbst der geringste Laut war überall zu hören. Vor allem aber mußten diese hohen Räume jedes Selbstvertrauen erschüttern. Es war nicht zu übersehen, daß man, so sehr man sich auch emporarbeiten würde, doch niemals nach oben kam. Zu dem, der hier an trüben Tagen arbeitete, mußte sogar das Licht an langen Stangen herabgesenkt werden. Dieses Zimmer erzählte also von der unentrinnbaren Nähe aller Töne und der Ferne eines Ziels. Und in dieser Erzählung würde sich nun die zukünftige Regierung niederlassen. Ihre Aktenordner und Broschüren hatte sie ja schon hier abgestellt. Aber alles hatte man in diesem Zimmer verstreut, die zukünftige Ordnung hatte vorerst nur Anarchie ausgelöst — die Anarchie der Akten und Amtswege. Und jetzt, wo Zukunft und Vergangenheit wild umeinander kreisten, konnte man wie im Zentrum eines Wirbels für einen Augenblick bis auf den Grund sehen. In dieser Stille zwischen den Fronten konnte man in aller Klarheit die hohen Zimmer und die alten, von aller Einschüchterung befreiten Telefonanlagen sehen; und weil man in diesem Augenblick selbst unsichtbar blieb, konnte man die neue Politik sehen, wie sie Tritt zu fassen versuchte, und wie nervös sie dies tat. Man konnte also verstehen, wie unwahrscheinlich es war, daß von hier Macht ausgehen würde.
Unterdessen war ein älterer Mann, der erst seit kurzem politische Ambitionen haben konnte, ins Zimmer getreten. Er trug ein Jackett, das eng und steif war wie ein alter Konfirmationsanzug, und vermutete in mir offensichtlich einen Parteifreund. „Sehen Sie“, sagte er, während er sich umsah, „sehen Sie, hier wird wenigstens gearbeitet“. Er betrachtete dieses Zimmer also unter betriebswirtschaftlichem Aspekt, und schon war er dabei, sich über die Beamten des alten Regimes zu beklagen, die noch immer im ganzen Haus saßen, um den Lauf der Dinge abzuwarten. Wie es schien, arbeiteten die alten Bürokraten an einem stummen Boykott. Aber man würde sie alle entlassen — alle! „Und wenn ich sie eigenhändig hinauswerfe!“, betonte der Mann, dessen sonstige Absichten mir unklar blieben. Warum war er hierher gekommen? Und warum plauderte er so vertraulich in einem Büro, das er doch offensichtlich jemand anderes wegen aufgesucht hatte? Er sprach noch immer über die Inkompetenz und die Sabotage der alten Beamten und fischte unterdessen in seinen Taschen nach Zigaretten und Streichholz, hielt mir dann einladend eine Packung, die ich leise zurückwies, entgegen, steckte sich schließlich eine Zigarette zwischen die Lippen und stellte mich, während er nun mitten im Halbsatz das Streichholz hob, vor die Alternativen, entweder höflich zu warten oder ihm ins Wort zu fallen. Offenbar war er gewohnt, daß man ihn nicht unterbrach.
Erneut klingelte das Telefon. Und auch diesmal klingelte es nachdrücklich; es klingelte, bis eine Sekretärin aus dem Nebenraum eilte und den Hörer abnahm. „Nein“, rief sie, „nein, er ist nicht da“. Immer wieder wehrte sie mit der freien Hand eine Frage oder Bitte ab: Nein, sie konnte keinen Fahrer schicken. Nein, auch Karlstaler konnte sie im Moment nicht erreichen. „Aber nehmen Sie doch einfach ein Taxi, da sind Sie schneller hier, als wenn wir einen Fahrer schicken“, sagte sie schließlich. Der Mann am anderen Ende der Leitung schien Auskünfte dieser Art nicht gewohnt zu sein, und so schleppte sich das Gespräch noch einige Sätze weiter, ohne ergiebiger zu werden. Als die Sekretärin aufgelegt hatte, beschwerte sie sich über die Politiker und Beamten, die man jetzt aus Bonn, München oder Stuttgart schickte. Jeden Tag wurden es mehr, und sie alle wollten vom Flughafen abgeholt werden. Wenn sie erst einmal hier waren, verlangten sie dann ein eigenes Zimmer und eine Sekretärin oder zwei und natürlich auch ein Telefon. „Dabei haben wir hier noch nicht einmal ein Kopiergerät“, erklärte sie, aber sie sagte es eigentlich zu niemandem, weder zu mir noch zu dem Mann im engen Jackett. Sie hatte sich bereits der Tür zugewandt, als sie noch einmal stehenblieb und mir wie in plötzlicher Erinnerung zurief: „Versuchen Sie es doch mal in Raum 156.“
Nun war es aber gar nicht einfach, mich aus den Gesprächsfäden des Mannes im Konfirmationsanzug zu befreien. Er hatte nämlich inzwischen eine Art Werbefoto herausgezogen und stellte sich mir als Kandidat des zukünftigen Landtages vor. Aus irgendeinem Grunde schien er an mir Gefallen zu finden. Jedenfalls bot er mir einen Stuhl an und gab damit zu verstehen, wie selbstverständlich er diese Räume benutzte, obwohl er doch noch gar nicht gewählt war. Ich wollte mich allerdings nicht setzen, denn ich wußte ja nun, in welchem Zimmer ich weitersuchen konnte.
Als ich auf den Flur hinausgetreten war, sah ich einige Arbeiter, die damit beschäftigt waren, den Kunststoffußboden abzulösen. Es handelte sich um die weitverbreitete Imitation eines Parkettbodens. Dabei war ja auch der handelsübliche Parkettboden nur eine mit Furnieren beschichtete Imitation. Die doppelte Imitation, die dieser Kunststoffboden darstellte, sollte nun also entfernt werden. Als ich stehenblieb, um für einen Augenblick zuzusehen, schienen die Arbeiter dies mißzuverstehen. Sie erklärten, der Fußboden, den ich für die Müllhalde bestimmt hielt, solle noch einmal in einem Kinderheim verwendet werden. Aber falls ich ein Auto hätte, könnten sie mit ohne weiteres ein Bündel zusammenschnüren. Hier war ich also noch einmal in die alten Versorgungskanäle geraten. Die Pause, die entstand, weil die Arbeiter offenbbar darauf warteten, daß ich ihnen einen Preis nannte, nutzte ich, um eilig abzuwinken.
Der Raum 156 lag im Kellergeschoß. An der Tür hing jedoch ein handgeschriebenes Schildchen. „Wir sind ab 13 Uhr in Raum 315“, stand dort. Die „315“ war dann allerdings in anderer Farbe durchgestrichen und durch eine Zahl ersetzt worden, die ich nicht identifizieren konnte. Im Nebenraum, wo ich nähere Auskunft erhoffte, saßen drei Männer, die offenbar zu jenen Beamten des alten Regimes gehörten, von denen der zukünftige Abgeordnete gesprochen hatte. Da saßen sie stumm an einem Schreibtisch und rauchten. Es waren altmodisch in braune Jacketts und karierte Hemden gekleidete Männer, die mir langsam ihre enttäuschten Gesichter zuwandten, während ich in der Tür stehenblieb. Sie schienen nur noch auf ihre Entlassung zu warten — oder vielleicht rechneten sie auch damit, daß man sie in diesem abgelegenen Kellergeschoß vergessen werde. Mit leerem, interesselosen Blick sahen sie mich an, und auch die Antwort, die sie mir schließlich gaben, kam müde aus einer Ecke hervorgekrochen. Sie klang vorwurfsvoll, als ob sie schon eine Weile geschlafen hätte und jetzt mühsam versuchen mußte, noch einmal wach zu werden. Nur einer der Männer taxierte mich etwas genauer. So wie ich da in der Tür stand, schien er in mir einen der neuen Politiker zu vermuten, einen der Männer, die ihn verdrängten. Der Schreibtisch, obgleich eigentlich leer, war in Unordnung. Einige Aschenbecher standen da, aber die Asche lag daneben, und in einer Ecke hatte man ein paar Knäuel Brotpapier zusammengeschoben. Ein Radio spielte leise Volksmusik.
Einige Zimmer weiter geriet ich in das Büro eines Blindenverbandes. Das ganze Zimmer war mit Kartons verstellt, und auf den Tischen lagen Papierrollen in Blindenschrift. Vor einen der Schränke war ein Stuhl gestellt, und ich sah, als ich eintrat, zunächst nur eine Frau, die auf diesem Stuhl stehend Papierrollen aus dem Schrank hob und auf den Tisch legte. Erst Sekunden später bemerkte ich die Frauen, die auf den Tischen umhertasteten. Sie untersuchten die Papierrollen, die vor ihnen lagen und verteilten sie in unterschiedliche Kartons. Auf diese Weise entstand ein ununterbrochenes scharrendes Geräusch, wie das einer maschinellen Produktion. Die Frauen schienen die Bewegungen ihrer Nachbarinnen genau zu ahnen, denn nur selten geschah es, daß sie sich unbeabsichtigt berührten. Zwischen allem saß ein Mann, der mit seinen toten Augen beständig knapp an mir vorbeisah, während die Betreuerin nun vom Stuhl herabstieg und mit mir sprach. Sie erklärte, das Kellergeschoß, das teilweise unter den Räumen des zukünftigen Ministerpräsidenten lag, sei zur Sicherheitszone erklärt worden. Deshalb wurde hier unten alles geräumt. „Aber in den anderen Stockwerken sieht es ja auch nicht besser aus“, fügte sie hinzu. Im übrigen kannte sie weder einen Dr.Kaltentaler noch einen Dr.Karl Bader. Immerhin bot sie mir an, telefonisch beim Pförtner nachzufragen. Aber sie machte dieses Angebot so verzagt, so kleinlaut, daß ich mir nicht vorstellen konnte, ausgerechnet hier einen Schritt weiter zu kommen. Ich wollte gehen. Während ich mich langsam abwandte, fragte ich, in welches Zimmer dieser Blindenverband denn nun umziehen werde, und erfuhr, daß er nicht umziehen, sondern ausziehen werde. Bei der Stadtverwaltung würde man fürs erste unterkommen, denn dies war in Zukunft unvereinbar: eine Landesregierung, die unter sich einen Blindenverband duldete.
Diese Reportage ist Bestandteil eines längerfristigen Buchprojekts über Dresden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen