: Den Jugendlichen Lebenschancen schaffen
■ Der Sportwissenschaftler und Fußballfanexperte Gunter Pilz zu den gewalttätigen Fans in Ostdeutschland INTERVIEW
taz: Wo sehen Sie die Ursachen für die hohe Gewaltbereitschaft der jugendlichen Fußballfans in den neuen Bundesländern?
Gunter Pilz: Da muß man sich gleich drei Problemfelder vor Augen führen. Diese Jugendlichen fallen in ein politisches Loch. Seit die Mauer weg ist, haben sie ihre DDR-Identität verloren.
Auch wenn sie gegen dieses System waren, haben diese Jugendlichen sozusagen unter dem Schutz der Mauer durchaus stolz nach Osten blicken können, denn die DDR war ja im ehemaligen Ostblock das Vorzeigeland. Nun sind diese Jugendlichen zwar Deutsche, aber eben Deutsche einer zweiten Qualität.
Dieser Identitätsverlust wird nun kompensiert...
Das wird kompensiert durch ein großdeutsches Denken und einen übersteigerten Nationalismus, der jetzt schonungslos ausbricht. Verstärkt wird er noch durch die massive Ausländerfeindlichkeit, die auf dem Gebiet der ehemaligen DDR in allen sozialen Schichten und durch alle Altersgruppen hindurch schon immer erschreckend hoch war, aber nie thematisiert werden durfte.
Diese Jugendlichen fallen zum zweiten in ein wirtschaftliches Loch. 230.000 Lehrstellen von Jugendlichen in der ehemaligen DDR sind in diesem Jahr gekündigt worden. Hinzu kommt die Massenarbeitslosigkeit, die schon vorhanden ist oder noch bevorsteht. Die Jugendlichen haben kaum berufliche Chancen.
Zum Dritten fallen sie in ein soziales Loch: Es gibt im ehemaligen Gebiet der DDR überhaupt keine pädagogischen oder sozialpädagogischen Programme, die diese Defizite ein Stück weit auffangen könnten.
Die Jugendlichen werden mit ihren Problemen alleingelassen.
Total alleingelassen. Sozialpädagogik gibt es in den neuen Bundesländern überhaupt nicht, es gibt auch keine Freizeitinfrastruktur. Die Städte in den neuen Bundesländern überbieten sich ja gegenseitig an Trostlosigkeit und Langeweile. Es gibt auch keine Möglichkeit für die Jugendlichen, Defizite und Probleme in Freizeitaktivitäten zu kompensieren oder auszuleben.
Das alles zusammen führt verstärkt zur Gewalt. Dazu kommt eine total desorientierte und verunsicherte Polizei, die nicht reagieren kann oder will. Die Polizei will sich vom Geruch des Stasi-Apparates lösen. Die Polizisten haben jetzt keinen Beamtenstatus mehr, sondern befinden sich in einer zweijährigen Bewährungsphase und müssen zudem nach völlig neuen Gesetzen handeln, die sie zum Teil gar nicht kennen.
Auch die DDR-Staatsmacht hatte doch schon ihre Probleme mit den Fußballfans. Bricht jetzt Gewalt aus, die jahrelang unterdrückt worden ist?
Entscheidend für die Ereignisse wie in Leizig ist sicher auch, daß diese jungen Leute überhaupt keine Erfahrung im Umgang mit eigener Gewalt haben. Natürlich aber mit der Gewalt des alten Staates. Jetzt kommt die früher unterdrückte Gewalt der Jugendlichen voll zum Ausbruch. Es wird verdroschen, was in den Weg kommt.
Was ist die Konsequenz, soll jetzt wieder genauso viel Polizei an den Stadien stehen, wie es in der DDR üblich war.
Wir stehen am Anfang einer Gewaltschwemme. Dennoch brauchen wir jetzt keine neuen Gesetze oder neue Dateien, wie es der DFB in ziemlich dümmlicher Art gefordert hat. Auch die Polizei an den Stadien wird das Problem keinesfalls alleine lösen, dadurch verlagert sich die Gewalt nur.
Interview: Jürgen Voges
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