Die erogene Zone Charlottenburg

■ Ein Novum: PolitikerInnen diskutieren über »Tabu Sexualität?«

Charlottenburg. Tabu Sexualität? Ein auf den ersten Blick merkwürdiges Thema einer Podiumsdiskussion. In unserer zumindest scheinbar aufgeklärten Zeit ist das Gespräch über Sex doch nichts Verbotenes mehr. Oder doch? »Zum ersten Mal«, so die AL-nahe Frauensenatorin Anne Klein auf dem gestrigen Podium im Rathaus Charlottenburg, »wird eine solche Thematik öffentlich von Politikern diskutiert. Obwohl Sexualität eine der wichtigsten Bestandteile der eigenen Identität ist.«

Wohl wahr. Schon das Ambiente im ehrwürdigen Rathaus zeigt das Verhältnis der Geschlechter überdeutlich. Unter einer hochgehängten Ahnengalerie sämtlicher Berliner Bürgermeister, die frau sich allesamt nicht im Bett vorstellen mag, tummelte sich fast durchweg weibliche Zuhörerschaft. Oben die abstrakte, scheinbar asexuelle Sphäre der Politik, unten das Konkrete, die wabernde Erdnähe. Für das Thematisieren von Gefühlen, auch sexuellen, sind in patriarchalischer Arbeitsteilung nun mal Frauen zuständig.

Und für die Verhütung. In unserem Staat werde nicht etwa das ungeborene Leben geschützt, »sondern die ungeplante irrationale Lust von Frauen strafrechtlich verfolgt und tabuisiert«. Das meinte zumindest Sylvia Heyer, Berliner Landesvorsitzende von »Pro Familia«. Nicht ohne rhetorische Brillanz rollte sie das Machtverhältnis zwischen den Geschlechter noch einmal auf: »Wenn zwei sich begehren, sind sie in völlig ungleichen Situationen.« Ob mit Pille oder auch Kondom, in konkreten Situationen obliege doch fast immer nur »der Frau die Pflicht, rational und gehemmt zu bleiben und die Verantwortung für die Verhütung zu tragen«. Wenn sie das aber nicht tue und ungewollt schwanger werde, werde sie in die Hände von staatlich verordneten Beratern, Ärzten oder Strafverfolgern geschoben.

Der geheime Sinn sexueller Tabus sei vor allem der, die Kontrolle einer Gruppe über eine andere zu verschleiern, glaubte auch der Sexualwissenschaftler Prof. Erwin Haeberle. Im 19. Jahrhundert hätten Frauen als »anorgiastisch« gegolten, und wenn sie es doch nicht waren, »galten sie als krank«; heute jedoch sei es genau umgekehrt. Ein anderes Beispiel: Bei einem bestimmten Stamm in Nordafrika werde von den Männern »erwartet, daß sie homosexuelle Beziehungen hatten, und wenn nicht, wurden sie belächelt. In der gleichen Region aber gibt es auch eine Gesellschaft, wo Homosexualität mit dem Tode bestraft wird.« Das Wort Tabu stamme aus dem Polynesischen, aber gerade die Polynesier hätten kaum sexuelle Tabus gekannt. »Ein junger Mann«, zitierte er den damals wohl ziemlich geschockten englischen Seefahrer Käpten Cook, habe unter Anweisung des halben Dorfes »die Riten der Venus« mit einem Mädchen ausgeführt. »Wenn das in Charlottenburg heute abend geschehen würde«, lächelte der Professor fein, »dann würden die Anwesenden sicher verhaftet.«

Dennoch, so Haeberle, »wenn man sich mit Sexualität beschäftigt, dann ist Charlottenburg der richtige Ort«. Magnus Hirschfeld, der Pionier der Sexualwissenschaft, habe hier als niedergelassener Arzt mit seiner Arbeit begonnen. Auch das »Centrum für Sexualwissenschaft«, das diese Podiumsdiskussion im Rahmen der Charlottenburger Reihe Sexualität und in Zusammenarbeit mit der ebenfalls auf dem Podium sitzenden Bezirksbürgermeisterin Monika Wissel und verschiedenen bezirklichen Einrichtungen organisiert hatte, befände sich schließlich in diesem Stadtteil.

Eine solche Veranstaltungsreihe sei, darauf wies Dr. Hans-H. Fröhlich als Leiter der Beratungsstelle Friedrichshain hin, vor allem für Ostberliner doch noch sehr ungewöhnlich: »In meiner 15jährigen Berufserfahrung habe ich niemals eine solche Veranstaltung erlebt. Im Osten war man es nicht gewöhnt, in aller Öffentlichkeit über sexuelle Dinge zu sprechen. Sexualität schien außerhalb politischer Verantwortung zu liegen, und wenn man das alte Politbüro ansieht, weiß man auch, warum: Wie der Herr, so's Gscherr.« Ute Scheub